Superhirn Craig O'Shannessy im Interview: "Du spielst wie ein 1,70 Meter großer Typ aus Bolivien"

Craig O'Shannessy (l.) gilt weltweit als bester Tennis-Analyst.
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Bei allem berechtigten Zverev-Hype nach den US Open: Er hat trotzdem immer noch Schwächen in seinem Spiel.

O'Shannessy: Das stimmt. Es ist ja kein Geheimnis, dass seine Vorhand häufiger zur Schwachstelle mutiert. Wenn ich gegen ihn gecoacht habe, war es natürlich immer die Strategie, seine Vorhand zu attackieren. Da offenbart er manchmal Unsicherheiten und weiß nicht genau, was er mit ihr machen soll. Und dann hat er natürlich warum auch immer diese großen Probleme mit seinem zweiten Aufschlag. Das ist sicher zum einen eine mentale Geschichte und zum anderen auch eine technische, weil in seiner ganzen Aufschlagbewegung so viel Bewegung drin ist, in den Füßen, aber auch in der Bewegung nach oben, wo es dann manchmal zu steil wird und wo er manchmal dann so abbremst. Das Verrückte ist, dass er ja innerhalb eines Matches immer wieder fantastische zweite Aufschläge auspackt.

Und dann kommt wie beim Matchball im Finale ein zweiter Aufschlag, der es gerade so übers Netz schafft, mit Minusgeschwindigkeit.

O'Shannessy: Zum Glück ist das Match nicht mit einem Doppelfehler beendet worden, das wäre tragisch gewesen. Aktuell muss er manchmal einen Zweiten mit 200km/h oder mit 100km/h servieren, um ihn ins Feld zu bringen. Er muss einfach etwas an seiner Technik arbeiten und sein Selbstbewusstsein in seinen zweiten Aufschlag wiederfinden, dann wird er diese Phase auch überstehen und in ein paar Jahren werden wir nicht mehr darüber sprechen. Sein zweiter Aufschlag ist eine Waffe, er sieht es im Moment selbst nicht so, aber er ist eine absolute Waffe. Ich sehe ihn als einen Spieler, der wie ein Schwamm unglaublich viel aufsaugen kann. Wie ein poröser Stein, in den viel Wasser reinfließen kann. Manchmal steht er auch zu weit hinter der Grundlinie und müht sich viel zu sehr ab. Er müsste teilweise viel mehr draufgehen und den Weg ans Netz suchen. Er müsste die kürzeren Ballwechsel mehr suchen und dominieren. Als ich mit Kevin Anderson gearbeitet habe, war es teilweise ähnlich. Er stand auch zu weit hinten.

Was haben Sie ihm dann gesagt?

O'Shannessy: Ich habe im Scherz zu ihm gesagt: "Du bist 2 Meter und kommst aus Südafrika. Aber du spielst wie ein 1,70 Meter großer Typ aus Bolivien." Wir vergessen bei der Diskussion gerne auch, dass Zverev immer noch ein junger Kerl ist, auch wenn er schon so lange auf der Tour ist. Natürlich muss er noch lernen. Aber er ist 23 und war schon die Nummer drei der Welt. Er hat die besten fünf oder zehn Jahre vor sich. Zehn Jahre, das sind 40 Grand Slams. Kann er fünf davon gewinnen? Zehn? Er wird ohne Frage eine großartige Karriere haben und es gibt nichts, das ihn daran hindern kann, Grand Slams zu gewinnen. Gar nichts. Ich sehe Zverev zu diesem Zeitpunkt auch knapp vor einem Daniil Medvedev oder Stefanos Tsitsipas. Und mit David Ferrer hat er sich den perfekten Coach geholt. Ferrer war ewig auf der Tour, er war ein Bilderbuchprofi und mental enorm stark. Er ist genau derjenige, den Zverev braucht und er kann ihm den nötigen Halt geben. Er kann ihm helfen, Niederlagen besser zu verdauen und sich vielleicht ein bisschen mehr auf den Gegner zu fokussieren.

Craig O'Shannessy: "Wir haben das früher bei Andre Agassi sehr häufig gesehen"

Im US-Open-Finale hat Zverev gegen Dominic Thiem viel Serve and Volley gespielt. Sollte er das mehr machen? Auch jetzt in Paris?

O'Shannessy: Serve and Volley ist auch so ein Thema. Im vergangenen Jahr war ich in Paris und mir ist aufgefallen, dass relativ viele Spieler Serve and Volley gespielt haben. Also habe ich nach Statistiken gefragt, aber sie hatten nichts. Womit wir wieder beim Thema wären, wie rückständig Tennis da teilweise noch ist. Wahnsinn. Aber zu Ihrer Frage: Zverev sollte auf jedem Belag Serve and Volley einstreuen, auf Rasen, auf Hartplatz, aber auch auf Sand. Es ist ein gutes Mittel, gerade gegen Gegner, die beim Return so weit hinten stehen - und es ist ein wichtiger Teil seines Spiels. Die entscheidende Frage ist, ob er Roland Garros gewinnen kann, wenn Nadal und Djokovic dabei sind. Es ist möglich, aber es wird der Tag kommen, an dem er sie schlagen muss bei einem Grand Slam, wenn er den Titel haben will. Für mich ist das Entscheidende, dass er sich dann speziell auf Nadal und Djokovic einstellen muss. Du musst deine Herangehensweise verändern gegen diese Jungs.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

O'Shannessy: Tommy Haas hat Novak einmal in Miami besiegt an einem kalten Abend, weil er ihn mit seinem Slice entnervt und ihm die Power genommen hat. Zu viele Spieler gehen in Matches mit Rafa und Novak und wollen einfach ihr Spiel spielen. Das funktioniert aber erwiesenermaßen nicht. Schon gar nicht Best-of-five in einem Slam. Hoffnung ist keine Taktik. Wir haben das früher bei Andre Agassi sehr häufig gesehen, dass Spieler gegen ihn den ersten Satz gewannen, dann aber in vier Sätzen verloren. Dann kannst du dir nach dem Match die Glückwünsche für ein gutes Match und einen gewonnenen Satz abholen, aber gewinnen wirst du es niemals. Weil du für diesen einen Satz dich so kaputtmachen musst. Das ist eine Ein-Satz-Strategie, aber nicht mehr. Agassi hat sich den Satz angeschaut und seine Gegner dann in vier nach Hause geschickt. Immer und immer wieder.

Craig O'Shannessy: "Diesen Zahlen nach gehört Thiem definitiv in die Big Four"

Wir haben noch gar nicht über den US-Open-Champion gesprochen. Wie haben Sie Dominic Thiems Leistung im Finale bewertet?

O'Shannessy: Das Finale war mental unglaublich schwierig für ihn. Alle haben ihn schon vor dem Match als Sieger gesehen, aber er wusste genau, was auf ihn zukommt. Er wusste, dass Zverev trotz seiner guten Bilanz gegen ihn kein gutes Matchup für ihn ist und dass praktisch alle Matches am seidenen Faden hängen. Er war völlig verkrampft. Erst als er so aussichtslos hinten lag, dass er sich den Gedanken erlauben konnte, dass er wohl verlieren wird, hat ihn das befreit. So merkwürdig es auch klingt. Jeder, der Tennis spielt, kennt das. Sobald du denkst, dass du es jetzt gewinnen musst, dreht der Kopf durch. Wenn Jugendliche gegen Ältere spielen, spielen sie oft herausragend. Aber wenn es dann wieder gegen Gleichaltrige geht und der Druck steigt, es gewinnen zu müssen, wird es sofort wieder schwierig. Es war ein faszinierendes Match mit einem faszinierenden Sieger. Ich frage mich, ob wir Thiem nicht in die Big Four aufnehmen müssten, so wie Andy Murray vor seinen Verletzungen ja eigentlich Teil der Big Four war.

Was würde denn dafür sprechen?

O'Shannessy: Wir müssen uns nur die Zahlen anschauen. Wenn wir 2019 und 2020 nehmen und die Bilanzen von Djokovic, Nadal, Federer und Thiem untereinander analysieren, dann sehen wir folgendes: Thiem 7-3, Djokovic 6-4, Nadal 3-5, Federer 2-6. Diesen Zahlen nach gehört Thiem also definitiv in die Big Four. Zumal er hier auch Siege bei Slams aufweisen kann, wie die beiden gegen Novak in Paris. Das ist schon alles sehr beeindruckend.

Thiem hofft, dass er nach seinem ersehnten ersten Grand-Slam-Titel jetzt lockerer aufspielen kann.

O'Shannessy: Das haben schon viele gedacht nach dem ersten großen Titel, dass sie relaxter sein würden. Auf gewisse Weise ergibt es Sinn, was Thiem sagt, aber in der Realität sieht es anders aus. Darauf sollte er nicht bauen. Wenn das nächste große Match kommt, kommt auch die Anspannung zurück.

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