Narzisst auf Raubzug

Von Christian Rapp
Nick Kyrgios katapultierte sich dank Wimbledon von Platz 144 auf Rang 66 der Weltrangliste
© getty

Nick Kyrgios nutzte die größtmögliche Bühne, um sich in der Tenniswelt einen Namen zu machen: Er besiegte Rafael Nadal auf dem heiligen Rasen von Wimbledon. Wer den jungen Australier kennt, der weiß, dass er mit nichts Geringerem zufrieden gewesen wäre.

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Eigentlich hätte Nick Kyrgios den Punkt abschenken können. Nadal führte bereits 40:0, Kyrgios bewegte sich falsch und stand schlecht zum Ball. Es blieb nur eine Möglichkeit, er musste die Vorhand durch seine eigenen Beine spielen. Ein Kunstschlag, den man eigentlich nur im Training oder bei Showmatches auspackt.

Doch war es genau dieser Notnagel, der Nadal verblüffte, gegen seine Laufrichtung ging und somit unerreichbar wurde. Ein Zeichen für den Nobody aus Canberra, der vom Publikum spätestens ab diesem Augenblick gefeiert wurde.

Der Jubel sollte anhalten, denn Kyrgios gelang kurze Zeit später die wohl größte Sensation seit 22 Jahren. So lange dauerte es, bis ein Spieler außerhalb der Top 100 den Klassenprimus bei einem Grand Slam schlagen konnte.

Schluss ist mit dieser Randnotiz der Tennisgeschichte für Kyrgios noch lange nicht, es ist vielmehr ein Anfang.

Drohung an die Weltelite

Denn Kyrgios will mehr, er strebt nach oben. Ein Blick auf seinen Twitter-Account verdeutlicht dies. Nutzen andere Sportler die Plattform primär, um mit ihren Fans zu kommunizieren, so betreibt der Australier ganz unverhohlen Eigenwerbung.

Bei Twitter preist er sich selbst als "stolzen griechisch-malaysisch-australischen Tennisprofi aus Canberra, ehemalige Nummer eins der Junioren und jetzt auf dem Weg, die ATP-Tour zu erobern". Das alles jedoch wohlgemerkt vor seinem Triumph gegen den Spanier. Understatement klingt anders.

Auch in seinem Aussehen spiegelt sich das Selbstvertrauen wider. Sein Markenzeichen sind die kurz geschorenen Haare mit einrasiertem Muster sowie eine Vielzahl an Goldketten, die um seinen Hals baumeln. Mit gerade einmal 19 Jahren versteht es Kyrgios bereits, sich perfekt zu inszenieren. Tristesse ist ihm fremd, wohl auch aufgrund seiner Vergangenheit.

An Aufgaben wachsen

Langweile kam im Hause Kyrgios definitiv nie auf. Seine Mutter hat malaysische Vorfahren, der Vater ist Grieche und geboren wurde Nicholas Hilmi Kyrgios down under in Canberra. Durch seine Adern fließt also ein Mix verschiedener Kulturen.

Die größten Fixpunkte waren jedoch schon früh seine beiden älteren Geschwister. Er musste sich behaupten. Mit seinem acht Jahre älteren Bruder Christos lieferte er sich packende Wettkämpfe, sei es auf dem Basketball-Court, beim Fußball oder Tennis.

Sicherlich gab es eine Zeit, in der Christos schneller und kräftiger war, auch mit dem Ball konnte er besser umgehen. Doch auf die Frage, wann er begriffen hatte, dass ihn sein kleiner Bruder schlagen könne, antwortete er lapidar: "Als er anfing zu laufen."

Die wunderbare Welt hat allerdings Risse, Rückschläge blieben auch bei Kyrgios nicht aus.

Asthma... das Ende aller Träume?

Sein wohl größter Kampf begann deshalb bereits zu Teenagerzeiten. Doch war der Gegner diesmal ein anderer, ein weitaus heimtückischerer. Er erkrankte an Asthma. Dass er heute seinen Traum vom Profi überhaupt leben kann, ist daher alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Trotz des Rückschlags war Aufgeben für ihn nie eine Option. "Als er jünger war, hatte er Übergewicht und richtig schlimmes Asthma. Wir wollten einen Berg hinaufrennen, ich konnte hören, wie er sich schwer tat, hörte wie sein Atem immer schwerer ging. Ich fragte ihn, ob er aufhören möchte. Aber er tat es nie. Er lief immer weiter. Wahrscheinlich kommt daher sein Selbstvertrauen und sein Glaube an sich selbst", erinnerte sich sein Bruder.

Vielseitigkeit ist Trumpf

Dieser unbedingte Wille half dem Australier später in seiner sportlichen Karriere. Im Alter von 17 Jahren sicherte er sich die Australien Open der Junioren und erklomm zudem die Pole-Position in der Nachwuchs-Weltrangliste. Was vielversprechend begann, drohte jedoch am schwierigen Sprung ins Männertennis zu scheitern.

Der Erfolg ließ zunächst auf sich warten, erste Zweifel inklusive. Doch dann gelang der Durchbruch. Bevor er gegen Nadal sein bisheriges Meisterstück ablieferte, gewann er bereits drei ATP-Challenger-Turniere.

Schaut man dem jungen Australier auf dem Court zu, so versteht man warum. Zunächst fällt einem der gewaltige Aufschlag des 1,93 Meter großen Hünen auf. Allein gegen Nadal servierte er 35 Asse. Im Schnitt schlug er mit stolzen 193 km/h auf. Immer wieder pfiffen die krachenden Aufschläge links und rechts am Spanier vorbei. Chancen boten sich diesem nur selten.

Doch ist damit lange nicht das Ende der Fähigkeiten erreicht. Kyrgios Spiel besteht aus weitaus mehr. Gegen Nadal überzeugte er beispielsweise zusätzlich mit harten, peitschenden Grundlinienschlägen. Der Australier ist auf den schnellen Punktgewinn aus, hat jedoch auch die Möglichkeiten, lange Ballwechsel für sich zu entscheiden.

Symbiose von Show und Kampf

Sein Repertoire ist dabei so vielschichtig wie seine Herkunft. Auf dem Court vereint er alles. Neben dem seriösen Tennishandwerk, gehören auch immer eine Portion Show, spielerische Einlagen sowie jede Menge Temperament dazu. Er möchte das Publikum unterhalten, Nebenplätze hasst er so sehr wie Understatement.

Neben der Show ist Kyrgios vor allem ein unermüdlicher Kämpfer, geht jedem Ball nach, gibt keinen verloren. Es scheint so, als verstünde er die Mechanismen des Geschäfts, deckt im Alter von 19 Jahren alle Facetten ab. Für die Zuschauer ist er der coole Nick, der die Unbekümmertheit in Person verkörpert. Für die Experten hingegen der junge, wilde, temperamentvolle Draufgänger, der mit Schlagkraft und Technik punktet. Die Aufmerksamkeit wächst.

Vorschusslorbeeren als Belohnung

Er selbst glaubte immer an sich, inzwischen tun dies auch andere. Die Stimmen aus der Tenniswelt werden lauter, die ihm den Sprung in die Weltelite zutrauen. Nach seinem beeindruckenden Sieg in der zweiten Runde in Wimbledon gegen Richard Gasquet, als er eine ungeheure Nervenstärke bewies, neun Matchbälle abwehrte und den fünften Satz 10:8 gewann, ließ der Franzose die Weltpresse wissen, dass er in diesem jungen Kerl aus Australien einen kommenden "Major-Sieger" sehe.

Auch Pat Cash, Wimbledon-Sieger von 1987, schlägt in die gleiche Kerbe und äußert sich überschwänglich zu seinem jungen Landsmann: "Er ist ein aufregender Spieler. Wenn er meine Hilfe benötigt, bin ich für ihn immer erreichbar."

Die wichtigste Erfahrung dürfte jedoch die gemeinsame Trainingswoche mit dem Maestro himself, Roger Federer, gewesen sein. Da blieb sogar der sonst so taffe und entertainment-verrückte Australier beinahe wortlos. Die Woche sei einfach eine "epische Erfahrung" gewesen, fasste er sich kurz.

Einzig der unterlegene Nadal sieht den aufstrebenden Nobody kritisch. "Es ist immer einfacher beim ersten Mal, wenn du oben ankommst. Wir werden sehen, ob er sich verbessern kann und wie lange er auf diesem Niveau spielt", bremste der Mallorquiner die Euphorie.

Die Lehren der Vergangenheit

Was der imposante Sieg gegen Nadal letztlich wert ist, entscheidet sich in absehbarer Zukunft. Kyrgios sollte sich dabei die Schicksale seiner Vorgänger unbedingt zu Gemüte führen. Lukas Rosol und Steve Darcis konnten Nadal in früheren Jahren im All England Club bezwingen. Rosol entwickelte sich zu einem passablen Spieler auf der Tour, Darcis hingegen ist in den Niederungen der Tenniswelt verschwunden und rangiert anno 2014 so gerade noch unter den Top 500.

Der Tenniszirkus ist nun auf Kyrgios aufmerksam geworden. Ein Nobody ist er nicht mehr. Bereits bei den US Open wird man ihn genauer unter die Lupe nehmen und genau prüfen, ob er dem Druck standhalten kann. Er selbst ist, wie sollte es anders sein, von sich überzeugt und ruft sein nächstes Ziel bereits aus: "Ich will die Nummer 1 werden."

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