Mit den Trümmern des World Trade Centers vor Augen wurde Juri Stepanow zu einem anderen Menschen. Mittlerweile ist der wohl meistgehasste Mann im russischen Sport als Whistleblower zu weltweiter Bekanntheit gelangt. Am Mittwoch haben sich er und seine Frau Julia nach ihren spektakulären Enthüllungen über ein russisches Dopingsystem erstmals öffentlich geäußert - und das ohnehin schon erschütternde Gesamtbild präzisiert.
"Ich war in New York am 11. September 2001, als die Twin Towers einstürzten. Meine Wohnung lag direkt davor, es war unglaublich, so etwas Schreckliches zu sehen", sagte Stepanow der "Süddeutschen Zeitung": "Da begriff ich, wie kurz das Leben sein kann. Wenn es unvorhergesehen endet, sollte man als ehrlicher Mensch in Erinnerung bleiben."
Stepanow hat dies eindrucksvoll beherzigt. Er hat mit seiner Frau Julia Stepanowa in einer "ARD"-Dokumentation schonungslos über das Dopingsystem seiner russischen Heimat ausgepackt, Beweise in Bild und Ton geliefert. Seither ist das Paar - er Ex-Kontrolleur der russischen Anti-Doping-Agentur RUSADA, sie gesperrte 800-m-Läuferin von Weltklasse-Format - zwischen Königsberg und Wladiwostok unerwünscht, lebt an unbekanntem Ort im Exil.
"Als Lügner gebrandmarkt"
"Ich dachte, es sei besser, wir verlassen das Land. Ein guter Entschluss, denn tatsächlich sind die Reaktionen in Russland sehr negativ. Wir werden als Lügner gebrandmarkt, in den Medien heißt es, wir seien keine guten Russen und bekämen große Probleme, wenn wir zurückkommen würden", sagte Stepanow.
Reichlich Sprengstoff bergen die Enthüllungen, die das Paar nun in zwei großen Zeitungsinterviews noch einmal präzisierte. Glaubhaft sind diese vor allem, weil gerade Stepanowa nicht nur über das gesamte System detaillierte Aussagen machte und unter hohem Risiko Belege sammelte, sondern auch kompromisslos über ihre eigene Doping-Vergangenheit auspackte.
"Jeder sagte, wenn ich Spitzenathletin sein wollte, müsste ich mitmachen", sagte die heute 28-Jährige der "FAZ". Ihr Mann wies auf die Normalität von Dopingkonsum in Russland hin: "Wir wussten, dass es nicht richtig war. Aber es war auch für alle ganz normal. Es lief nicht unter Doping, sondern unter Spezialvorbereitung.
Vor zwei Jahren WADA belastet
Stepanowa, die ihre Doping-Karriere exemplarisch für russische Athleten sieht, hatte nahezu das komplette Standard-Repertoire unerlaubter Substanzen eingeworfen: "In Russland wird das Cocktail genannt. Epo für die Ausdauer, Steroide für die Kraft und weitere Mittel." Auch mit Wachstumshormon, laut Stepanowa in Russland weit verbreitet, habe sie experimentiert.
Gedopt worden sei unter Regie des russischen Cheftrainers Alexej Melnikow und des Chefmediziners Sergej Portugalow. Beide habe Stepanowa bereits vor zwei Jahren in einem Brief an die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA belastet - es blieb weitestgehend folgenlos
Das Doping-System Russlands werde von höchster Stelle getragen, die Motive sind gleichermaßen logisch wie banal. "Das Interesse ganz oben ist es zu zeigen, dass Russland besser ist als andere Länder. Die Leute sollen patriotisch gestimmt werden", sagte Witali Stepanow: "Nachdem Putin die Macht übernahm, wollte Russland wieder zur Sport-Supermacht werden."
"Was ermitteln sie bloß?"
Um dem komplett durchseuchten System Herr zu werden, fordert Julia Stepanowa drakonische Maßnahmen. "Wenn man wirklich das Ziel hat, Doping zu bekämpfen, muss man Funktionäre und Trainer nicht für zwei oder vier Jahre sperren, sondern lebenslang", sagte sie. Um eine dopingfreie Leichtathletik in Russland aufzubauen, "sollte der gesamte Verband für zwei Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen werden."
Von WADA und Leichtathletik-Weltverband IAAF fühlt sich Stepanowa allein gelassen: "Wir hoffen, dass sich nun jemand bei uns meldet, um unser gesamtes Material anzusehen. Was ermitteln sie bloß? Uns hat noch niemand gebeten, ihnen Aufnahmen zur Verfügung zu stellen." Die WADA nannte sie einen "zahnlosen Tiger".
Die Leichtathleten sollen keineswegs das schwarze Schaf in Russlands Sportfamilie sein. "Unser Wissen macht mich glauben, dass es in anderen Sportarten ähnlich läuft", sagte Witali Stepanow. Als RUSADA-Fahnder habe er mitbekommen, dass es vor den Winterspielen 2010 die Anweisung gegeben habe, bestimmte Medaillenkandidaten nicht zu testen. Russlands Doping-Sumpf könnte sich als noch tiefer herausstellen.