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WM 2023: Ein zerrissener Champion und der Kampf gegen Strukturen – was von der Weltmeisterschaft bleibt

Von Justin Kraft
Alexandra Popp, Deutschland
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Die WM 2023 ist vorbei, Spanien hat sich den Titel gesichert. Im Finale schlugen sie England mit 1:0. Während die einstigen Dominatorinnen aus Deutschland und den USA längst zu Hause waren. Doch auch abseits des Sportlichen gab und gibt es wieder viele Themen. SPOX zeigt, was von der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland bleibt und welche Erkenntnisse es gab.

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Als Deutschland und die USA längst zu Hause waren, spielten andere Nationen um den häufig von ihnen gewonnen Weltmeister-Titel. Mit Spanien gewann letztendlich eine Nationalelf, die es sportlich ohne jeden Zweifel verdient hat, gleichzeitig aber auch Angst davor haben muss, dass strukturelle Probleme nun vergessen werden.

Ohnehin gab es abseits der vielen tollen Entwicklungen einige Themen, die in Zukunft eine wichtige Rolle spielen müssen. SPOX zeigt, was von der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland bleibt.

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WM 2023: Die Aufstockung war genau richtig

Verwässertes Niveau, langweilige Gruppenphase, Kantersiege der großen Nationen - die Angst vor der Aufstockung war riesig, als die FIFA 2019 den Beschluss veröffentlichte. Experten und Expertinnen, aber auch viele Berichterstatterinnen und Berichterstatter waren sich uneinig: Wird es dem Frauenfußball helfen, wenn zu den bisher 24 WM-Teilnehmernationen noch acht weitere hinzukommen?

Die WM 2023 hat eine klare Antwort gegeben: Ja. Und das gleich auf mehreren Ebenen. Nicht im Achtelfinale der Weltmeisterschaft standen: Kanada, Brasilien und Deutschland. Auch nicht dabei: Italien, das zwar weit davon entfernt ist, zu den Topfavoriten zu zählen, aber sich in der Vergangenheit durchaus einen guten Ruf erspielte. Mit dabei hingegen: Marokko, Südafrika, Jamaika und Nigeria.

Insgesamt gab es sieben Spiele, in denen ein Team mit mindestens fünf Toren Unterschied gewann. Das sind fünf mehr als bei der WM vor vier Jahren. Ein deutlicher Qualitätsunterschied zwischen dem Vietnam oder den Philippinen einerseits und den Top-Nationen andererseits lässt sich also kaum abstreiten. Doch es geht bei einem derart großen Turnier auch nicht immer nur um Qualität.

Die Philippinen beispielsweise feierten mit ihrem 1:0-Erfolg über Co-Gastgeber Neuseeland ein regelrechtes Fest, das über die Landesgrenzen hinaus die Herzen vieler Fans erreichte. Wen interessiert da schon die 0:6-Klatsche in Unterzahl gegen Norwegen? Marokko verlor den Auftakt zwar ebenfalls mit 0:6 gegen Deutschland, sorgte bei der ersten Teilnahme überhaupt aber für eine Sensation und zog ins Achtelfinale ein - während der DFB ausschied.

Haiti trotzte den Engländerinnen einen harten Kampf ab, verlor am ersten Spieltag nur mit 0:1. Die vermeintlich kleinen Fußballnationen haben abgeliefert und gezeigt, dass sie würdig sind, bei einer WM dabei zu sein. Das Turnier profitierte sowohl kulturell als auch sportlich davon.

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WM 2023: Australien erobert viele Herzen

Es hätte der Moment sein können, der für Australien in die Fußball-Geschichte eingegangen wäre: Als Sam Kerr gegen England spektakulär den Ausgleich erzielte, bebte nicht nur das Stadion, sondern alle fußballbegeisterten Regionen des Landes. Es schien, als hätte man das Momentum jetzt auf seiner Seite, würde kurz davorstehen, das Finalticket zu buchen.

Doch England erstickte diese Hoffnung schnell im Keim. Australien schied aus, verlor auch das Spiel um den dritten Platz gegen Schweden mit 0:2. Ein Ende, das diese Geschichte eigentlich nicht verdient hatte. Australien begeisterte nicht nur die einheimischen Fans. Die "Matildas", wie sie liebevoll genannt werden, spielten mit viel Energie, Offensivdrang und gleichzeitig hoher Disziplin in der Defensive.

Vor dem Turnier galten sie maximal als Geheimfavoriten. Mit ihrem fantastischen Publikum im Rücken kamen sie in einen Lauf, der seinen Höhepunkt im Elfmeterschießen gegen Frankreich fand. Kerrs sehenswertes Tor gegen England wird die letzte positive Erinnerung an das Turnier bleiben. Vorerst. Denn mit Abstand wird man auch in Australien sehr glücklich auf diese WM zurückblicken - sportlich, aber auch mit Blick auf die gesamte Organisation.

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Das Ende der Dominanz: Deutschland und USA müssen sich neu sortieren

Weniger glücklich sind die einstigen Supermächte des Frauenfußballs. Schließlich war das frühe Aus der beiden ein historisches Ereignis. Die erste vermeintlich offizielle Weltmeisterschaft fand 1991 in China statt. Im Finale setzten sich die USA gegen Norwegen durch. Auch in den darauffolgenden sieben Turnieren standen immer die US-Amerikanerinnen oder Deutschland im Finale.

Für den Kontext ist folgender Exkurs wichtig: Auch vor 1991 gab es Weltmeisterschaften, die von den Verbänden aber bis heute nicht als offiziell anerkannt werden und deshalb in der Geschichtsschreibung nur selten eine Rolle spielen. 1970 nahm für Deutschland beispielsweise der SC 07 Bad Neuenahr in Italien teil, weil damals das Frauenfußball-Verbot des DFB noch in Kraft war. Dänemark setzte sich im Finale vor mindestens 40.000 Fans mit 2:0 gegen Italien durch. Im Jahr darauf kamen in Mexiko sogar 110.000 Fans ins Aztekenstadion. Wieder gewann Dänemark, wieder gegen den Gastgeber: Mexiko musste sich 0:3 geschlagen geben.

Insofern wäre es falsch, zu behaupten, es habe noch nie ein Finale ohne Deutschland und die USA gegeben. Und doch bleibt das deutsche Gruppenaus ebenso epochal hängen wie das Scheitern der USA im Achtelfinale. Beide Verbände haben viel aufzuarbeiten, beide scheinen in den letzten Jahren dem Aberglauben verfallen zu sein, dass Athletik, Physis und individuelle Klasse ausreichen würden.

Doch dem ist nicht so. Andere Nationen haben gezeigt, dass sich der Frauenfußball weiterentwickelt hat. Die athletischen Vorteile sind kleiner geworden, der Rückstand ist vor allem im strategischen Bereich gewachsen. Beide waren nicht in der Lage, fußballerisch zu überzeugen, weil sie als Team keine Lösungen für die Probleme fanden, die ihnen gestellt wurden.

Für Deutschland gilt das nochmal deutlich mehr als für die USA, bei denen man zumindest davon sprechen kann, dass sie etwas unglücklich gegen Schweden ausschieden. Trotzdem bleiben Fragen offen. Veränderungen sind nötig bei den einstigen Supermächten, um bei kommenden Turnieren wieder erfolgreich sein zu können.

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WM 2023: Legenden nehmen ihren Hut

Diese WM war für viele die letzte überhaupt. Vermutlich auch im deutschen Team. Wird Alexandra Popp beispielsweise in vier Jahren nochmal angreifen können? Sie wäre dann 36. Offiziell machten den Abschied von der großen Bühne bereits die Brasilianerin Marta und Megan Rapinoe aus den USA.

Beide haben den Frauenfußball auf ihre Art und Weise geprägt. Marta war über viele Jahre die prägende Figur eines ganzen Sports. Insgesamt sechsmal wurde sie Fifa-Weltfußballerin, 2007 erzielte sie die meisten Tore bei der Weltmeisterschaft und sicherte sich die Auszeichnung als beste Spielerin. Der ganz große Wurf gelang ihr mit Brasilien nie.

Trotzdem prägte Marta den Fußball, war sie ihrer Zeit auf dem Platz doch meist voraus. Trickreich, elegant, dominant - eine Ikone in ihrem Heimatland und auch darüber hinaus. Nun nahm sie ihren Hut.

Ebenso wie Rapinoe, die den Fußball in den letzten Jahren vor allem auch durch ihre laute Stimme im Kampf für Gleichberichtigung prägte. Sie wurde zum Vorbild vieler junger Sportler*innen und zum Symbol für Frauen und die queere Community im Sport. Auch sie wurde Weltfußballerinnen. Doch es ist vor allem ihre Haltung, die dem Frauenfußball fehlen wird.

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England: Ab jetzt wird es richtig schwer

Die Erwartungshaltung an England ist enorm. Nach dem Titelgewinn bei der Europameisterschaft im letzten Jahr und dem Finaleinzug bei der WM in diesem Jahr wird es für sie immer schwerer, dieser gerecht zu werden. Schon in diesem Jahr wird es nicht wenige auf der Insel geben, die ohne Titel enttäuscht sind.

Darin liegt die Gefahr für die Zukunft. Die Fallhöhe ist größer geworden, der Druck dadurch ebenfalls gewachsen. Schon bei dieser WM war der Erfolg mehrfach in Gefahr. Beispielsweise im Achtelfinale gegen Nigeria, als man ins Elfmeterschießen musste. Mit 27,21 Jahren im Schnitt wird es in den kommenden Monaten und Jahren auch die eine oder andere Veränderung geben (müssen).

Sarina Wiegman hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass sie damit umgehen kann. Die Trainerin ist ein Phänomen, hat England innerhalb kürzester Zeit in die Weltklasse gehievt. Jetzt wird es darum gehen, das Team dort zu halten.

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Spanien: Die Angst vor dem Vergessen

Spanien ist Weltmeister. Drei Worte, die gleichzeitig so folgerichtig und trotzdem absurd wirken. Denn Spanien war zerstritten. 15 Spielerinnen zogen in den Streik gegen den eigenen Trainer. Jorge Vilda habe die Spielerinnen genötigt, ihre Zimmertüren im Hotel unabgeschlossen zu lassen, um sie kontrollieren zu können, war einer der schwerwiegenden Vorwürfe gegen ihn. Es habe Taschenkontrollen gegeben. Psychisch soll das die Spielerinnen belastet haben.

Auch fachlich waren offenbar viele von ihnen nicht zufrieden gewesen sein. Kurz vor der WM wurde dennoch ein Burgfrieden geschlossen. Zumindest zwölf der 15 Streikenden sind in den Kader zurückgekehrt. Spätestens nach dem 0:4 in der Gruppenphase gegen Japan wurden die Themen jedoch wieder auf den Tisch gelegt - zumindest im Umfeld des Teams.

Doch Spanien blieb stabil, der Burgfrieden hielt und am Ende steht man vollkommen verdient mit dem Pokal in den Händen da. Begeisternder Fußball und nur wenige Anzeichen für Streits. Selbst ohne die Starspielerinnen Patri und Mapi León und mit einer Alexia Putellas, die weit von ihrer Topform entfernt war, marschierten sie zum größten Erfolg ihrer Geschichte.

Und trotzdem gibt es in Spanien jetzt die Angst vor dem Vergessen. Als Vilda den Pokal in den Himmel von Australien hob, waren leichte Buh-Rufe zu vernehmen. Bei den Fans haben die Vorwürfe Spuren hinterlassen. Wie es jetzt weitergeht, ist unklar. "Ich sehe keine Veränderungen", begründete León bei RAC1 vor dem Turnier ihre Entscheidung auf den Verzicht. Die Spielerinnen werden weiterhin für ihre Anliegen kämpfen. Die Zeit des Burgfriedens ist womöglich nach dieser Weltmeisterschaft vorbei.

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WM 2023: Frische Blickwinkel auf den Fußball

Diese Weltmeisterschaft war auch ein abermaliger Fortschritt in der Berichterstattung - wenn auch nicht auf allen Ebenen. Doch dazu später mehr. Es tut der Fußballlandschaft gut, mal nichts von den Effenbergs, Baslers und Hamanns dieser Welt zu lesen und zu hören und auch Lothar Matthäus nicht bei jedem Thema prominent vertreten zu sehen.

Das hat in erster Linie nicht nur mit den Personen an sich zu tun. Es geht weder darum, sie zu diskreditieren, noch darum, ihnen die Berechtigung in der Öffentlichkeit abzusprechen. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass Vielfalt wohltuend ist. Nia Künzer, Kathrin Lehmann, Tabea Kemme, Josephine Henning waren die Gesichter dieser WM. Und sie überzeugten mit unterschiedlichen Blickwinkeln - untereinander, aber auch in Abgrenzung zu dem, was man aus dem Männerfußball gewohnt ist.

Einige von ihnen haben es mittlerweile auch schon in den Alltag der Berichterstattung rund um die Männer geschafft. Dort zeigen sie regelmäßig, wie wertvoll ihre Perspektive sein kann. Der Diskurs bekommt neue Dimensionen und Ebenen, die Themen werden viel breiter besprochen. Eine Erkenntnis, die man vor allem aus medialer Perspektive mitnehmen sollte, gar mitnehmen muss.

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WM 2023: Wieder ein Schritt nach vorn

Qualitativ hat der Fußball erneut einen Schritt nach vorn gemacht. Vom ersten Gruppenspiel bis zum attraktiven Finale haben die 32 Nationen den Fans viel anbieten können. Der Frauenfußball ist in den letzten Jahren athletischer, schneller und taktisch durchdachter geworden.

Doch auch abseits der gestiegenen spielerischen Qualität wurde vieles besser. Die weltweit gewachsene Aufmerksamkeit führt dazu, dass in vielen Bereichen mehr Professionalität wahrzunehmen ist. Sei es bei medialer Arbeit vor Ort oder schlicht der Dimension der Stadien, in denen die Spielerinnen spielen.

Australien und Neuseeland wussten als Gastgeber zu überzeugen und haben den Teams offenbar viel anbieten können. Auch die Medienvertreterinnen und -vertreter haben fast ausschließlich positiv über die Organisation des Turniers berichtet. Guter Fußball auf dem Rasen, Wertschätzung daneben - so soll es in Zukunft möglichst überall sein.

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WM 2023: Der Kampf gegen Strukturen geht weiter

Bei allem Fortschritt zeigte diese WM aber auch, dass der Kampf gegen Strukturen weitergehen wird. Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen den Nationaltrainer Sambias, die lebenslange Sperre für den Präsidenten des Fußball-Verbandes von Haiti, der minderjährige Spielerinnen belästigt und missbraucht haben soll - all das wurde zumindest in Deutschland mehr am Rande thematisiert. Die FIFA tat ihr Bestes, um etwaige Fragen auf Pressekonferenzen zu blockieren. Dass der maximal übergriffige Kuss von Spaniens Verbandspräsident Luis Rubiales auf den Mund von Weltmeisterin Jenni Hermoso in spanischen Medien bisher für keinerlei Aufschrei gesorgt hat, spricht ebenfalls Bände.

Hinzu kommen die Teams von Jamaika, Nigeria, Kanada und Südafrika, die öffentlich darüber klagten, dass ihnen Bonuszahlungen des Verbandes vorenthalten werden, die Trainingsbedingungen schlecht sind und die Reisen chaotisch geplant würden. Auch der Streik der Spanierinnen muss hier abermals aufgelistet werden. Den Spielerinnen wurde vor der WM kein Gehör geschenkt.

Im Frauenfußball werden Machtstrukturen immer noch ausgenutzt - überwiegend durch Männer. " Die Spielerinnen treiben den Sport einfach in einem viel schnelleren Tempo voran, als die Strukturen in vielen Ländern ihnen folgen", erklärte Jonas Baer-Hoffmann, Generalsekretär der internationalen Spielergewerkschaft FIFPRO, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.

In vielen Bereichen im und rund um den Frauenfußball wird die Entwicklung nur so weit vorangetrieben wie nötig, gleichzeitig aber so kleingehalten wie möglich. Dass die Spielerinnen das größtenteils nicht mehr mit sich machen lassen, ist eine positive Erkenntnis dieser WM. Ebenso, dass es wahrscheinlich die professionellste und größte Weltmeisterschaft der Geschichte war. Doch der Kampf gegen Strukturen ist längst nicht vorbei und wird weitergehen.

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