FC Bayern München – Kommentar: Thomas Tuchel ist taktisch und psychologisch auf dem Holzweg – dieser Boss kann ihn noch retten

Von Justin Kraft
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Der FC Bayern München verliert sein zweites Spiel in Serie. Gegen Lazio Rom schlägt man sich in der Champions League größtenteils selbst und zeigt eine große Verunsicherung. Thomas Tuchel hat abermals keine Erklärung – und sollte genau deshalb seinen Ansatz überdenken. Ein Kommentar.

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"Ich weiß nicht" und "keine Ahnung" - das sind die Worte, die von Thomas Tuchel aktuell am häufigsten zu hören sind. Auch nach der 0:1-Niederlage bei Lazio Rom stellte sich der Trainer des FC Bayern München vor die Kameras von DAZN und sagte zweimal "ich weiß nicht" und dreimal "keine Ahnung".

"Ich weiß nicht, wieso wir so den Faden verloren haben in der zweiten Halbzeit, keine Ahnung", erklärte Tuchel. Wobei erklären hier das falsche Verb ist. Erklärungen hat er nämlich schon länger nicht mehr. "Aber wir haben ihn auf jeden Fall verloren und dann alles dafür getan, dass wir in Rückstand geraten." Tuchel distanziert sich damit sehr klar von seinen Spielern und deren Leistung.

Er nimmt sich aus der Verantwortung - und überträgt diese nahezu komplett auf die Mannschaft. Richtig so, mag vielleicht manch ein Bayern-Fan denken, der genug von der Vielzahl an individuellen Fehlern hat. Eine Mannschaft, die unter so vielen verschiedenen Trainern nicht konstant performen konnte, steht zu Recht in der Kritik. Trotzdem muss Tuchel seinen Ansatz überdenken.

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FC Bayern München: Plötzlicher Leistungseinbruch hängt auch mit Tuchel zusammen

Wenn ein Team eine zumindest akzeptable erste Halbzeit zeigt, die Thomas Müller anschließend richtigerweise als Reaktion auf die Niederlage in Leverkusen bezeichnete, und derart verunsichert aus der Kabine kommt, dann stellen sich einige Fragen. Ballverluste, noch ungenaueres Offensivspiel und eine katastrophale Entscheidungsfindung - die Bayern starteten die zweite Halbzeit, als würden sie bereits mit 0:3 zurückliegen.

Verunsicherung, die man von vielen Vereinen kennt, normalerweise aber nicht vom FC Bayern. Verunsicherung, die sich nicht vom Trainer trennen lässt. Mehrfach gestikulierte Tuchel wild am Seitenrand, schrie seine Spieler mitunter an oder sendete negative Signale durch seine Körpersprache. Dem 50-Jährigen gelingt es derzeit nicht, seine Enttäuschung zu verstecken. Er ist auch nicht bekannt dafür, seine Spieler mit Samthandschuhen anzupacken.

Gerade in der aktuellen Phase bräuchte es womöglich aber einen anderen Ansatz. Wie fühlen sich die Spieler, wenn sie die öffentlichen Auftritte des Trainers und dessen Ratlosigkeit sehen?

Tuchel war in Rom auch darum bemüht, zu betonen, wie wichtig Zusammenhalt jetzt sei und dass man geduldig an den Problemen arbeiten werde. Gerade diesen Zusammenhalt repräsentiert er mit einigen seiner Aussagen aber nicht.

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FC Bayern: Spieler äußern bisher nur zwischen den Zeilen Kritik

Das betrifft auch die taktischen Entscheidungen, die in der Summe womöglich nicht so entscheidend waren, wie sie mitunter diskutiert wurden, die aber auch nicht dazu beitrugen, dass das Team an Sicherheit gewinnt.

Zwischen den Zeilen ist das auch bei den Spielern immer wieder zu hören. Müller, der die fehlenden Freiheiten anspricht. Manuel Neuer, der darüber spricht, dass eine Dreierkette zwar grundsätzlich bei jedem Bayern-Spieler im Repertoire sein müsse, sie aber einige Abläufe verändere. Und ein Joshua Kimmich, dem die Leichtigkeit im Team fehlt.

Letztendlich lassen all diese Aussagen auch dann Rückschlüsse auf die Arbeit des Trainers zu, wenn sich die Spieler darum bemühen, ihn explizit aus der Kritik rauszunehmen. Es ist ein Problem, dass Tuchel kaum Flexibilität zeigt.

Vom insgesamt statischen Positionsspiel bis hin zu fehlenden Anpassungen innerhalb eines Spiels: Der Champions-League-Sieger von 2021 scheint sehr von sich und seinem Weg überzeugt zu sein. Eine Eigenschaft, die ihm viele Erfolge gebracht hat, die mitunter aber auch dazu führte, dass bei der einen oder anderen Station früher als erwartet Schluss war.

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Entlassung von Thomas Tuchel? Womöglich der falsche Zeitpunkt

Wie kann der FC Bayern nun seine Verunsicherung überwinden? Ein Trainerwechsel muss dafür nicht immer die richtige Antwort sein. Ausgerechnet die Anstellung von Tuchel selbst vor rund einem Jahr hat das eindrucksvoll bewiesen.

Damals war das Team unter Julian Nagelsmann ähnlich verunsichert. Die Entscheidung, den heutigen Bundestrainer zu beurlauben, kam für viele Spieler dennoch überraschend. Es dauerte lange, bis erstmals der Eindruck entstand, dass Tuchel und die Mannschaft zueinander fanden. Kurzfristig wurde die Situation eher verschlimmert als verbessert.

In München wäre man dementsprechend wohl gut beraten, die aktuelle Lage erstmal noch weiter zu beobachten und abzuwarten, ob der Turnaround unter Tuchel gelingt. Auch weil mit Max Eberl bald ein neuer Sportvorstand anfängt, der die Richtung für den kommenden Sommer maßgeblich mitbestimmen wird. Seine Bewertung des Arbeitsalltags sollte eine gewichtige Rolle spielen.

Personalsituation, Verletzungen, fehlender Rhythmus - es gibt schon noch Argumente, die man für Tuchel anführen kann und die dafür sprechen, ihm noch etwas Zeit zu geben. Allerdings muss es ihm bald gelingen, den negativen Trend umzudrehen. Mit jedem "ich weiß nicht" und jedem "keine Ahnung" werden die Zweifel daran, ob er das schafft, größer.

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