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WM 2022: FIFA-Präsident Gianni Infantino bezeichnet WM-Kritik als "reine Heuchelei"

SID
FIFA-Präsident Gianni Infantino hat nach jahrelangen Diskussionen über den umstrittenen WM-Gastgeber Katar genug von der Kritik.
© getty

Gianni Infantino schießt zurück: In einer denkwürdigen Pressekonferenz hat der FIFA-Präsident die umstrittene WM in Katar verteidigt und der westlichen Welt eine Doppelmoral vorgeworfen.

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Gianni Infantino blickte ernst, holte tief Luft - und dann legte der FIFA-Präsident vor versammelter Weltpresse einen denkwürdigen, exakt einstündigen Monolog hin. Scheinheilig, rassistisch, ungerecht: Infantino teilte mächtig aus und erhob bei seinem bizarren Auftritt schwere Vorwürfe gegen seine Kritiker und die gesamte westliche Welt.

"Diese einseitige Moralpredigt ist reine Heuchelei", rief er den rund 400 Journalisten in Doha zu und griff einen Tag vor dem Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador am Sonntag (17.00 Uhr MEZ) mit einem Rundumschlag insbesondere die Medien an. "Es fällt mir wirklich schwer, diese Kritik zu verstehen", sagte Infantino, sie sei "zutiefst ungerecht".

So seien Verurteilungen Katars aus der westlichen Welt vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte unangebracht. "Für das, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren getan haben, sollten wir uns für die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, den Menschen moralische Lektionen zu erteilen", sagte der umstrittene Chef des Fußball-Weltverbandes. Nicht alles sei gut in Katar, räumte er ein, gleichzeitig beobachte er jedoch Fortschritte im Wüstenstaat und verwies unter anderem auf die Abschaffung des Kafala-Systems.

Katar biete Arbeitsmigranten, deren Bedingungen im Vorfeld des Turniers immer wieder scharf kritisiert wurden, "eine Perspektive", sagte Infantino. "Wir in Europa schließen unsere Grenzen, und wir erlauben diesen Menschen nicht, legal in Europa zu arbeiten", führte er weiter aus, "wir alle wissen, dass es illegale Arbeit in Europa gibt. Wenn ihr euch wirklich um das Schicksal dieser Menschen scheren würdet, bietet das, was Katar macht, Chancen. Legale Chancen. Gebt ihnen Arbeit, gebt ihnen Sicherheit."

Amnesty International kritisierte Infantino dafür scharf. "Dadurch, dass er legitime Kritik an Menschenrechtsverletzungen beiseite wischt, würdigt er den enormen Preis herab, den Arbeitsmigranten gezahlt haben, um sein Flaggschiff-Projekt möglich zu machen", sagte Sprecher Steve Cockburn. Indem sie "eine Art Kulturkrieg" ausrufe, weiche die FIFA zudem ihrer Verantwortung aus.

Erst am Freitag war DFB-Präsident Bernd Neuendorf deutlich auf Distanz zum FIFA-Boss gegangen und erklärt, es gebe "einige Dinge, die mich in letzter Zeit bei der FIFA irritiert und verstört haben. Wir haben so entschieden, weil wir glauben, ein Zeichen setzen zu müssen."

Die Bauarbeiten für die WM-Stadien und die zusätzliche Infrastruktur sollen angeblich tausenden Arbeitsmigranten das Leben gekostet haben. Zudem wurden im Vorfeld der WM insbesondere die Menschenrechtssituation in Katar sowie fehlende Rechte für Frauen und die LGBTQ-Gemeinschaft angeprangert.

Infantino über Kritik: "Rassismus, purer Rassismus"

Infantino drückte zu Beginn seines Monologs seine Unterstützung für diese Gruppen aus. "Heute fühle ich mich katarisch, heute fühle ich mich arabisch, heute fühle ich mich afrikanisch, heute fühle ich mich schwul, heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Gastarbeiter", sagte der gebürtige Schweizer. Jeder und jede sei in Katar "herzlich willkommen: Wenn jemand was anderes sagt, ist das nicht die Haltung des Landes - und es ist nicht die Haltung der FIFA", ergänzte er.

Der 52-Jährige legte bei seinem frei gehaltenen Vortrag häufig längere Pausen ein und erhob immer wieder die Stimme. Er wurde auch persönlich: Er sei der Sohn von Gastarbeitern und als Kind wegen seiner roten Haare gehänselt worden: "Ich weiß, was es bedeutet diskriminiert zu werden. Ich wurde gemobbt."

In erster Linie jedoch war Infantino im Angriffsmodus. So verurteile er auch Medienberichte über angeblich "gekaufte" Fanparaden im Vorfeld der WM-Endrunde als fremdenfeindlich. "Das ist Rassismus, purer Rassismus - das muss aufhören. Jeder in der Welt hat das Recht, für wen auch immer zu sein", sagte er und fragte: "Kann jemand, der wie ein Inder aussieht, nicht für Deutschland oder Spanien sein?"

Infantino über Bier-Verbot: "Fans werden das überleben"

Infantino äußerte außerdem wenig Verständnis für die Aufregung um das Bier-Verbot in den acht WM-Stadien. "Ganz ehrlich: Wenn das unser größtes Thema bei der WM ist, dann werde ich das sofort unterschreiben, zum Strand gehen und bis zum 18. Dezember entspannen", sagte Infantino.

"Ich persönlich finde: Wenn Fans für drei Stunden am Tag kein Bier trinken können, werden sie das überleben. Es gibt die gleichen Regeln in Frankreich, Spanien oder Schottland, wo auch kein Bier in den Stadien erlaubt ist", so Infantino weiter.

Auf Druck des Gastgebers Katar war nur zwei Tage vor der WM die Entscheidung widerrufen worden, in den Stadien Alkohol zu verkaufen. Geplant war es, nach den Spielen in speziellen Verkaufszelten alkoholhaltiges Bier anzubieten. "Es wird weiterhin acht oder zehn Fanzonen geben, wo man Alkohol kaufen kann", sagte Infantino. Dies gilt allerdings erst ab 18.30 Uhr Ortszeit.

Der FIFA-Boss betonte, dass er "versucht habe", den Verkauf auch in den Stadien zu erlauben. Dennoch gelte: "Jede Entscheidung bei dieser WM ist eine gemeinsame Entscheidung von Katar und FIFA." Gleichzeitig bedankte er sich beim exklusiven Bier-Sponsor Budweiser. "Partner sind Partner, in guten und schlechten Zeiten", sagte Infantino.

Gianni Infantino: Die wichtigsten Aussagen im Überblick

Gianni Infantino über...

... seine Gefühle vor dem WM-Start: "Heute fühle ich mich katarisch, heute fühle ich mich arabisch, heute fühle ich mich afrikanisch, heute fühle ich mich schwul, heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Gastarbeiter. Ich fühle so, weil ich all das gesehen habe."

... die Doppelmoral der Katar-Kritiker: "Diese einseitige Moralpredigt ist reine Heuchelei. Für das, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren getan haben, sollten wir uns für die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, den Menschen moralische Lektionen zu erteilen."

... die Fortschritte in Katar: "Natürlich gibt es Dinge, die noch nicht funktionieren. Es ist ein Prozess. Wissen Sie, wann Frauen in meiner Heimat Schweiz im letzten Kanton das Wahlrecht erhalten haben? In den 1990ern. Lassen sie uns in den Spiegel schauen. Und lassen sie uns versuchen, andere durch Austausch zu überzeugen, nicht durch einseitige Moral."

... die Gastarbeiter in Katar: "Katar bietet ihnen eine Perspektive. Sie verdienen hier das Zehnfache von dem, was sie in ihrer Heimat verdienen. Und sie machen das legal. Wir in Europa schließen unsere Grenzen, und wir erlauben diesen Menschen nicht, legal in Europa zu arbeiten. Wir alle wissen, dass es illegale Arbeit in Europa gibt. Wenn ihr euch wirklich um das Schicksal dieser Menschen scheren würdet, bietet das, was Katar macht: Chancen! Legale Chancen. Gebt ihnen Arbeit, gebt ihnen Sicherheit."

... einen Entschädigungsfonds für Arbeiter: "Katar hat eine Versicherungsfonds eingerichtet. Seit 2018 hat dieser Fonds mehr als 350 Millionen Dollar gezahlt, das meiste für ungezahlte Löhne, aber auch für Unfälle. Jeder Arbeiter, der einen Unfall hat, bekommt nach Gesetz eine Kompensation. Ich gehe davon aus, dass sich das in den nächsten vier Jahren nicht ändern wird und weitere 350 Millionen gezahlt werden. Es können auch mehr werden, hoffentlich weniger."

... die LGBTQ-Rechte in Katar: "Ich habe darüber mehrfach mit den Regierenden gesprochen. Sie haben bestätigt, dass jeder willkommen ist - egal, welche Religion, Rasse, sexuelle Orientierung oder Glauben er hat. Wenn jemand das Gegenteil sagt, ist das nicht die Meinung des Landes und nicht die der FIFA. Es ist ein Prozess. Wenn ich meinen Vater fragen würde, der nicht mehr hier ist, würde er mir vielleicht eine andere Meinung sagen. Es braucht Zeit, aber die Türen beginnen sich zu öffnen."

... die Kritik an angeblich gekauften Fanparaden: "Jeder in der Welt hat das Recht, für wen auch immer zu sein. Kann jemand, der wie ein Inder aussieht, nicht für Deutschland oder Spanien sein? Toleranz beginnt bei uns selbst. Das ist Rassismus, purer Rassismus - das muss aufhören."

... einen geforderten WM-Ausschluss des Iran: "Es spielen nicht zwei Regimes, keine zwei Ideologien gegeneinander, sondern zwei Mannschaften. Müssen wir alle ausschließen, weil ein paar Menschen schlecht sind? Glauben Sie, dass alle Iraner Monster sind? Sie kritisieren und spalten. Wollen Sie einen weiteren Weltkrieg? Okay, machen Sie weiter so."

... das Bier-Verbot: "Wenn Fans für drei Stunden am Tag kein Bier trinken können, werden sie das überleben. Es gibt die gleichen Regeln in Frankreich, Spanien oder Schottland, wo auch kein Bier in den Stadien erlaubt ist. Ganz ehrlich: Wenn das unser größtes Thema bei der WM ist, dann werde ich das sofort unterschreiben, zum Strand gehen und bis zum 18. Dezember entspannen."

... die Aussage von Ex-FIFA-Boss Joseph S. Blatter, die Vergabe nach Katar sei ein Irrtum: "Ich war damals nicht dabei, ich war vielmehr bekannt als einer der größten FIFA-Kritiker. Ich bin seit 2016 FIFA-Präsident, seitdem gibt es viele Änderungen. Die Anerkennung von Menschenrechten ist inzwischen Teil einer Bewerbung."

... die WM 2022: "Doha ist bereit, Katar ist bereit. Natürlich wird es die beste WM aller Zeiten. Sobald der Ball rollt, konzentrieren sich die Leute darauf. Weil es das ist, was sie wollen, das ist der Zauber des Fußball."

... Fans, die die WM nicht schauen wollen: "Viele schauen wahrscheinlich trotzdem heimlich. Wenn du ein Fußball-Fan bist, gibt es nichts Größeres als eine WM. Wer zuschaut, wird den besten Fußball aller Zeiten und die größten Emotionen sehen. Die Fans werden es genießen, wie sie noch nie eine WM genossen haben. Ich bin überzeugt, dass diese WM hilft, die Augen vieler Menschen der westlichen für die arabische Welt zu öffnen."

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