Mit dem Messer zwischen den Zähnen

Knapp ein Jahr nach der WM 1998 kam es zum Handshake zwischen Simeone (l.) und Beckham
© getty

Er lernte von Größen wie Luis Aragones und reifte in Europa zum Weltstar. Nach seiner Karriere als Spieler leistet Diego Simeone in Madrid nun selbst Erstaunliches. Er formte Atletico nach seinem Ebenbild und damit zum Titelkandidat.

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Der Unterschied zwischen guten und sehr guten Trainern lässt sich wohl am ehesten an der Fähigkeit erkennen, einen solchen Einfluss auf eine Mannschaft zu nehmen, dass diese zum Ebenbild der eigenen Vorstellungen wird. Ungeachtet der finanziellen Mittel, sind es die Spielweise, das Auftreten und das Selbstverständnis der Spieler, die sich zu einem übergeordneten Ganzen zusammenfügen und den Verein auf eine neue Ebene hieven.

An keiner anderen europäischen Mannschaft lässt sich dieser Prozess momentan so gut nachverfolgen wie an Atletico Madrid. Um verstehen zu können, wie immens der Anteil von Trainer Diego Simeone, Spitzname 'El Cholo', ist, lohnt ein Blick in die Vergangenheit des Argentiniers.

Immer an der Grenze

Seine Karriere begann Simeone in Argentinien bei Velez Sarsfield. Er durchlief die Jugendakademie des renommierten Klubs und schaffte durch eine Zielstrebigkeit, die seine damaligen Trainer beeindruckte, bereits als 17-Jähriger den Sprung in die Profiabteilung. Trotz seiner hochwertigen Ausbildung entwickelte er sich allerdings erst während seiner Zeit in Europa zu dem Spieler, der neben der Teilnahme an drei Weltmeisterschaften, auch den zweifachen Gewinn der Copa America und eine Silbermedaille bei Olympia vorzuweisen hat.

Jenes Engagement in Europa begann 1990 mit einem zweijährigen Aufenthalt in Italien bei Pisa Calcio und führte ihn anschließend nach Spanien zum FC Sevilla. Dort trainierte er zunächst unter seinem Landsmann Carlos Bilardo, der Argentinien 1986 als Nationaltrainer zum Weltmeistertitel und vier Jahre später zu einem zweiten Platz führte und dessen Name im argentinischen Fußball stellvertretend für eine pragmatische Spielweise steht. Eine Herangehensweise, die Simeone schnell verinnerlichte.

Während seiner gesamten Karriere ließ er nie Zweifel an seiner Einsatzbereitschaft und Leidenschaft aufkommen und präsentierte sich als beinharter Mittelfeldakteur, der vor allem in den Bereichen Spielintelligenz, Einsatzwille und Führungsqualität überzeugen konnte. Als Arbeiter, der sich jederzeit komplett in den Dienst der Mannschaft stellte, war er sich zudem für keine Schandtat zu fein und handelte stets an der Grenze des Erlaubten. Er selbst beschrieb sich einst als "Spieler mit dem Messer zwischen den Zähnen".

Unvergessen bleibt in diesem Zusammenhang die Rote Karte, die er für Englands David Beckham bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich provozierte und die auf der Insel als Hauptgrund für das Ausscheiden angesehen wurde. "Offensichtlich war es schlau. Durch die Tatsache, dass ich mich fallen ließ, zwang ich den Schiedsrichter praktisch dazu, die Rote Karte zu ziehen", analysierte er nach der Partie trocken. Getreu der Philosophie, dass das Ergebnis die Mittel rechtfertigt. Ein Charakterzug, den Simeone in seiner weiteren Karriere stets vor Augen hat.

Durchbruch im zweiten Anlauf

Trotz hoher Erwartungen und eines alternden Diego Maradona an seiner Seite scheiterte Simeone mit Sevilla in den folgenden zwei Jahren sowohl unter Bilardo als auch dessen Nachfolger Luis Aragones jeweils am Einzug in das internationale Geschäft. Für seine persönliche Entwicklung, vor allem im taktischen Bereich, war die Zeit in Sevilla jedoch äußerst wertvoll.

Getrieben durch die Enttäuschung entschied sich der Argentinier, der inzwischen zu einem der gefragtesten Spieler der Liga gereift war, für einen erneuten Wechsel. Unter der Regie des Serben Radomir Antic und im Kreis von Spielern wie Kiko gelang ihm bei Atletico Madrid endlich auch in Sachen Titel der ersehnte Durchbruch.

Bereits in seinem zweiten Jahr bei den Rojiblancos durfte er neben der Meisterschaft auch den Gewinn der Copa del Rey feiern. Keine Selbstverständlichkeit, handelte es sich um die erste Meisterschaft seit fast 20 Jahren sowie das erste Double der Vereinsgeschichte. Es entstand eine spezielle Bindung zwischen Simeone und dem Verein, die bis heute Bestand hat.

Wechsel der Perspektive

Nachdem er mit Inter und Lazio weitere Titel feiern durfte, war im Jahr 2006, nach 513 Vereinspartien und 106 Länderspielen, endgültig Schluss - zumindest als Spieler. Denn eine Ruhepause kam für Simeone, der den Fußball lebt, nicht in Frage. Direkt nach seinem Karriereende übernahm er bei Racing Club de Avellaneda den Posten des Trainers. Es folgten weitere Stationen in Argentinien und Italien, ehe es mit der Erfahrung von fünf Jahren an der Seitenlinie im Dezember 2011 zurück zu Atletico ging.

"Es war immer mein Ziel, eines Tages als Trainer zu Atletico zurückzukehren. Ich bringe sowohl den Arbeitswillen wie auch den Enthusiasmus, den ich immer hatte, mit. Die Verantwortung ist enorm, doch das schreckt mich nicht ab, es spornt mich vielmehr an. Ich bin stets an Zielen gewachsen und werde dies auch in diesem Fall tun", beschrieb er die Hintergründe seiner Entscheidung.

In der Tat übernahm er bei den Rojiblancos keine leichte Aufgabe. Zwar mangelte es den Spielern nicht an der nötigen Qualität, die Intensität und der entsprechende Wille ließen jedoch zu wünschen übrig. "Es herrschte stets eine negative Stimmung, die bis in die Psyche der Spieler vordrang", beschrieb Diego Forlan die Problematik vor dem Antritt Simeones. Die Spieler hätten sich schlichtweg daran gewöhnt zu scheitern.

Reine Kopfsache?

Es dauerte nicht lange, da wurde die Genialität hinter der Verpflichtung durch Präsident Enrique Cerezo sichtbar. Mit seinem Enthusiasmus, der Mentalität von Spiel zu Spiel zu denken und speziellen Trainingsmethoden, angepasst an den jeweiligen Gegner, revolutionierte er das Auftreten des Klubs aus Madrid und schaffte es, die eklatanteste Schwachstelle der Vergangenheit zu beseitigen.

Er formte die Mannschaft nach seinen Vorstellungen und schuf so eine Verbindung zwischen dem Spieler Simeone und der Spielweise seines Teams. Der unbedingte Wille zu siegen, die aggressive Spielweise und der Hunger nach Erfolg prägen das Gesicht der "neuen" Rojiblancos - vom Zweifel vergangener Tage fehlt jede Spur.

"Atletico hat den gleichen Stil, den Simeone als Spieler hatte. Perfektes Stellungsspiel, eine starke Konzentrationsfähigkeit und vor allem Charakter. Was Simeone als Spieler war, ist Atletico als Mannschaft", analysierte Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti die besondere Entwicklung des Stadtrivalen.

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Respekt muss man sich verdienen

Die Qualifikation zur Champions League, der Gewinn der Europa League sowie des Super Cups und der Triumph in der Copa del Rey können nur bruchstückhaft die wahren Ausmaße der Veränderung durch Simeones Arbeit abbilden.

Der Respekt, den sich die Mannschaft erarbeitet hat, ist weitaus größer, als es die Erfolge auf dem Papier vermuten lassen. Dass beispielsweise Jose Mourinho im Vorfeld des Super-Cup-Finales zwischen dem FC Chelsea und Atletico das Team aus Madrid als die "vielleicht am schwierigsten zu spielende Mannschaft" lobte, zeugt von einer Anerkennung, die gerade beim Portugiesen eher Seltenheitswert besitzt.

"Wir sind kein Team von Individualisten. Wir sind eine Gruppe hart arbeitender Spieler, die immer nur das Beste für die Mannschaft wollen. Wir kämpfen in jedem Spiel, in jeder Minute um jeden Ball. Auch im Training wird man keinen Spieler finden, dem es egal ist zu verlieren", so Mittelfeldspieler Arda Turan. Attribute, die ebenso gut auf ihren Trainer angewandt werden könnten - mit Sicherheit kein Zufall.

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