Bradley Carnell im Interview: "Ich habe den ganzen Tag den BVB unter Klopp angeschaut"

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Nach viereinhalb Jahren in Karlsruhe folgte noch eine unglückliche und kurze Zeit in Rostock. Sie sind mit 33 zurück in die Heimat. Ab wann war Ihnen klar, dass es in Richtung Trainer geht?

Carnell: Ich hätte nach dem Jahr in Rostock noch Optionen gehabt, in der 2. Liga oder 3. Liga zu bleiben, aber alle Angebote waren nur noch für ein Jahr. Ein Jahr hier, ein Jahr dort, wieder umziehen - das wollte ich meiner Familie nicht mehr antun. Das war der Hauptgrund, warum wir nach Südafrika gegangen sind. In Südafrika hatte ich neben dem Fußball die Chance, als TV-Experte zu arbeite. SuperSport hieß der TV-Sender, das war wie in Deutschland damals DSF. SuperSport besaß die Bundesliga-Rechte, so hatte ich die Chance, an der Taktiktafel zu stehen und ein bisschen Fußball zu erklären.

Wie ging es weiter?

Carnell: Der Plan nach dem Karriereende war, dass ich an der Universität in Johannesburg eine Art Sportlicher Leiter werden und ein Fußball-Projekt aufbauen sollte. Aber irgendwann kam der Moment, an dem ich dachte: Warum machst du eigentlich nicht selbst den Trainer? Ich habe irgendwie gespürt, dass mir das Freude machen würde. Und es war der perfekte Einstieg. Mit einer Uni-Mannschaft hast du erstmal keinen großen Druck, da kannst du deine Idee vom Fußball zu 100 Prozent umsetzen und Erfahrung sammeln. In der Zeit habe ich gemerkt, was meine Leidenschaft ist. Natürlich bin ich sehr ehrgeizig und strebe nach Erfolg, aber die größte Erfüllung ist es, junge Menschen zu entwickeln. Nicht nur Spieler, Menschen.

Wie sah Ihre Idee vom Fußball damals aus?

Carnell: Ich habe zu der Zeit den ganzen Tag den BVB angeschaut. Wie Dortmund unter Klopp gespielt hat, mit dieser Energie, das hat mich in den Bann gezogen und fasziniert. Dazu kamen natürlich die Einflüsse von Ralf Rangnick. Ich hatte das Glück, dass wir sehr schnell Erfolge feiern konnten an der Uni und dass ich so die ersten Chancen als Co-Trainer im Profifußball in Südafrika erhielt. Zuerst bei den Free-State Stars, dort hatte ich einen italienischen Trainer, Giovanni Solinas. Danach ging es weiter zu den Orlando Pirates, zu einem der größten Klubs bei uns in Afrika mit einer sehr emotionalen Fanbase, dort durfte ich unter Muhsin Ertugal arbeiten, einem unglaublich gewieften Taktiker. Und der entscheidende Schritt kam dann 2017, als ich auch dank meiner guten Beziehungen zu Rangnick und zu Jochen Schneider das Angebot bekam, Co-Trainer bei den Red Bulls in New York zu werden.

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Carnell: "Es gibt einen Brainwash-Prozess für jeden"

Sie sprechen die Einflüsse von Ralf Rangnick immer wieder an. Rangnicks Mentor war ja Helmut Groß. Haben Sie ihn auch kennengelernt?

Carnell: Wir hatten ein paar Mal einen Austausch am Trainingsgelände. Helmut Groß hat eine unglaubliche Aura. Eine unglaubliche Ausstrahlung. Ich sage immer: Er ist wie so ein weiser Professor, wie Mr. Miyagi in Karate Kid. (lacht) Wenn du mit ihm sprichst, versuchst du, jede Sekunde alles aufzusaugen. Wenn er ein Spiel beobachtet, dauert es zehn Sekunden und er erzählt dir sofort, was gut oder falsch läuft. Er sieht die kleinsten Details, die andere nicht sehen. Und er ist so leidenschaftlich dabei. Es gibt ja inzwischen die verschiedensten Ausprägungen der Red-Bull-Philosophie, aber im Ursprung geht alles auf Ralf Rangnick und Helmut Groß zurück. Und auf Valeriy Lobanovsky. Als Ralf 1984 in Backnang Dynamo Kiew sah, hat sich die Welt für ihn verändert. Er war davon überzeugt, dass Kiew einen Mann mehr auf dem Platz hatte. So ist die Grundidee der Philosophie entstanden: überall auf dem Feld Überzahl zu schaffen, darum geht es heruntergebrochen. Und in Hoffenheim war die Idee zuerst, daran erinnert mich Lutz Pfannenstiel (jetziger Sportdirektor in St. Louis, Anm. d. Red.) immer wieder. (lacht)

Sie bauen jetzt in St. Louis eine komplett neue Mannschaft auf. Wie wird diese Philosophie den Spielern eingeimpft?

Carnell: Es gibt einen Brainwash-Prozess für jeden, das ist definitiv so. Damit er das System versteht, daran glaubt und die Vorteile kennt. Das hört sich jetzt krass an, aber das ist ein Prozess, der Spaß macht. Es geht darum, sehr proaktiv, intensiv und effizient Fußball zu spielen. Natürlich um das hohe Pressen, worüber immer gesprochen wird. Wie schnell können wir den Gegner unter Druck setzen? Wie können wir den Gegner manipulieren, um ihn unorganisiert zu erwischen? Das sind entscheidende Fragen. Und es funktioniert nur, wenn jeder mitmacht. Unser System erlaubt keinen Star, der sich nicht als Teil des Ganzen sieht. Alle elf Mann müssen dabei sein, alle elf Mann müssen den Tank leer machen. Als Einheit. Das System ist unser Spielmacher, wenn wir als Kollektiv pressen. Das System forciert den Ballverlust. Macht einer nicht mit, ist das System kaputt. Auch deshalb spricht Klopp immer von den Mentalitätsmonstern. Wir brauchen diese Jungs, die von unserem Weg total überzeugt sind. Die immer auf dem Vorderfuß stehen. Immer bereit, nach vorne zu verteidigen. Die immer sofort wieder den Ball haben und den schnellstmöglichen vertikalen Weg zum Tor suchen. In fünf bis acht Sekunden vertikal zum Tor - das ist das Ziel. Nur lang und weit nach vorne ist nicht der Weg. Man kann auch lange Bälle schlagen, dann aber gezielt.

Aber Sie mögen keine weiten Diagonalbälle der Außenverteidiger.

Carnell: Das stimmt, ich habe ungerne große Switches. Dass der linke Außenverteidiger den Ball diagonal 40, 50 Meter nach rechts vorne schlägt. Das will ich nicht sehen. Ich will das direkte vertikale Spiel sehen. Klar, im letzten Drittel kann ein Chip-Ball hinter die Kette wertvoll sein, aber ich will keine so großen Spielverlagerungen im Aufbau. Für mich ist es aber ein Ziel, dass die Außenverteidiger auch Spielmacher sein können. Dass sie mutig nach vorne gehen auf der Außenschiene. So wie es Liverpool macht mit Trent Alexander-Arnold und Andrew Robertson - das ist auch genau mein Muster. Die Außenverteidiger sollen für die Breite im Spiel sorgen, ich will aber keine Flügelspieler im Mittelfeld. Ich will Zehner, die sich zwischen den Linien bewegen. Wenn wir im 4-2-3-1 spielen, will ich, dass die Zehner hinter dem Stürmer eng beieinander stehen. Um unser Kurzpassspiel aufzuziehen und um direkt Überzahl in Ballnähe zu haben fürs Gegenpressing, wenn wir den Ball verlieren. Deshalb ist das Scouting so wichtig. Es gibt viele offensive Mittelfeldspieler, die sich wohler fühlen, wenn sie in der Breite mehr Raum haben. Aber ich will Spieler, die komfortabel damit sind, keinen Raum und keine Zeit zu haben. Die gerne in engen Räumen zuhause sind, die Zweikämpfe dort annehmen und Lösungen finden.

Sie haben in Ihrer Zeit als Interims-Cheftrainer in NY einen Ihrer Lieblings-Trainingsclips geteilt. Was hat Ihnen daran so gefallen?

Carnell: Es geht bei uns ja sehr viel um unser hohes Pressing und selten um Ballbesitz. Aber ich habe keine Angst vor Ballbesitz. Und dieser Clip zeigt sehr gut, wir wir uns in diesem Jahr gesteigert haben. Wie die Jungs gewachsen sind in einem schwierigen Jahr. Wenn du den Cheftrainer verlierst, ist es keine einfache Situation. Aber die Mannschaft hat es geschafft, wieder Vertrauen in sich zu finden. Irgendwann kommt in einem Training der Moment, bei dem du merkst, dass sie sich berappelt haben. Das sieht man in dem Clip. Das war immer noch direkt und schnell. Das war mit Überzeugung. Es hat extrem viel Spaß gemacht, diese Entwicklung zu sehen für mich als Trainer.