Argentiniens Fußball-Mafia

Von Stefan Rommel / Stefan Wörner
In den Fanblock der Boca-Juniors-Fans hat "La Doce" das Sagen
© Imago

Die Barra Bravas sind das schlechte Gewissen des argentinischen Fußballs. Im Schatten des schönen Spiels hat sich eine Subkultur ausgebreitet, die mittlerweile kaum mehr einzudämmen ist. Das Geflecht aus Korruption, Repression, Gewalt und Profit erstreckt sich von den Slums bis hinauf in die höchsten Kreise der Gesellschaft.

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Aus dem Barrio gibt es nur einen Ausweg: Du wirst ein Star auf dem Feld - oder in der Barra Brava. Sie ist das schlechte Gewissen des argentinischen Fußballs, der Schatten, der das schöne Spiel verfolgt.

Die meisten ihrer Mitglieder kommen aus den Slums der Großstädte. Unter der Woche sind sie unsichtbare Gestalten, an den Wochenenden schlägt dann ihre Stunde. In den Stadien werden sie gesehen und gehört.

Die Barra Brava, frei übersetzt "Wilde Horde", ist eine merkantile Abart des Hooliganismus früherer Tage. Hier wird auch getrunken und geprügelt, aber nebenher noch das ganz große Geschäft gemacht. In Argentinien gehöre der Fußball ihnen, sagen sie. Also nehmen sie sich auch, was sie wollen.

Schwer durchschaubares Geflecht

Fast ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, in den Barras kann man sich nicht nur Anerkennung erarbeiten, sondern auch Geld und Macht. Die totale Hingabe zu seinem Klub ist die Mindestanforderung für die Aufnahme, fast immer gehören auch Mutproben dazu.

Was auf den ersten Blick wie eine verschworene kleine Taschendieb-Clique anmutet, ist ein riesiges Konstrukt. Von den Soldaten ganz unten über die Capo spannt sich das Geflecht bis hinauf in die Klubetagen und die Politik.

Als es in den 50er Jahren los ging, wurden besonders leidenschaftliche Anhänger der Klubs von den Offiziellen und Politikern mit Eintrittskarten bedacht. Im Gegenzug votierten die Beschenkten bei den nächsten Wahlen für ihre Gönner. So nahm einst alles seinen Lauf. Heute ist die Gemengelage kaum mehr zu durchschauen.

Abkassiert wird überall

Die Klubs, die Politik, selbst die Spieler sind involviert. Und natürlich hängt auch die Staatsmacht knöcheltief mit drin. Es ist wie die Reinform der Korruption. "Die Polizei steckt mit uns unter einer Decke. Es profitieren alle davon", sagt ein Mitglied von Bocas Barra Brava "La Doce".

Die Geschäfte laufen recht gut, abkassiert wird überall. Beim Verkauf eigener Fanartikel: Trikots, Shorts, Fahnen, Schals. Selbst an den Bocadillo-Ständen wandern die Pesos für Baguettes und Erfrischungsgetränke in die Taschen der Organisationen.

Das ist noch vergleichsweise kleines Geld. So richtig interessant wird es in anderen Sparten: Beim Ticketing zum Beispiel. Manche Barra Bravas kontrollieren über die Hälfte der Karten für Heim- und Auswärtsspiele. Auch mit der Vergabe von Parkplätzen wird gutes Geld verdient.

Funktionsweise von Unternehmen

Oder beim Personenschutz. Die Barra verspricht höchste Sicherheit rund um ein Event im Stadion. In der Tat passiert bei den Spielen seit geraumer Zeit deutlich weniger als noch vor ein paar Jahren.

Was nicht am Schutz der Barra liegt. Sondern daran, dass sie schlicht die Seite gewechselt hat. Von den rücksichtslosen Krawallmachern zu den besorgten Schutzbefohlenen. Nicht unter die Rubrik "Gefahr im Stadion" fallen Bengalos und Leuchtraketen.

Den Spaß wollten sie sich selbst dann doch nicht nehmen. Wer schon einmal ein Spiel in einem argentinischen Stadion erlebt hat, kann über die deutsche Pyrotechnik-Debatte nicht mal mehr müde lächeln.

Es sind die Überbleibsel einer unorganisierten Zeit. Mittlerweile funktionieren die Barras um einen Klub wie Unternehmen, die sich mehr und mehr in die Vereinsgremien fressen und den Klub von innen aushöhlen.

Schutzgelderpressung bei eigenen Spielern

Die unabhängige Organisation "Salvernos al Futbol" um Frontfrau Monica Nizzardo hat herausgefunden, dass bei den Newell Old Boys die komplette Jugendausbildung in die Hände der Barra Bravas gefallen war. Über ein Jahrzehnt lang kassierten die ab: Wer seinen Sohn bei den Old Boys anmelden wollte, musste zunächst dafür bezahlen.

Im Seniorenbereich wird bei Spielertransfers die Hand aufgehalten. Nicht einmalig, wenn der Wechsel vollzogen wird. Sondern monatlich, als eine Art Entschädigung für das freundliche Entgegenkommen.

Und zur Sicherheit: Dem Spieler oder dessen Familie könnte ja etwas Unerfreuliches zustoßen. Ein Unfall oder eine Entführung vielleicht. Es regiert das Schutzgeld-Prinzip. La Doce, heißt es, macht jeden Monat genug Geld, um bequem 50 ihrer Mitglieder durchzubringen.

Im Stadion ist alles möglich

Zwischen 20 und 30 Prozent beziffert Gustavo Grabia die Abschlagszahlung pro Transfer. Grabia ist dem Treiben der Barras seit Jahren auf der Spur. Der Journalist lebt deshalb reichlich gefährlich. Er hat die Strukturen durchleuchtet.

Die Soldaten machen die Handlangerjobs. Mit Bier und billigen Drogen, gestellt von der Organisation, werden sie willig gemacht. Eine Stufe darüber kommt man als Unterhändler in den Kontakt mit Geld. Die Claims sind klar abgesteckt, jedes Barrio und jeder Geschäftszweig sind vergeben. Im Gegenzug bekommen die Mitglieder der Gruppe freies Geleit ins Stadion, vorbei an der Polizei und deren untauglichen Sicherheitsmaßnahmen.

Drinnen geht dann der Verkauf so richtig ab. Von Drogen bis Waffen wird alles verhökert, "hier drin sind wir die Könige. Das ist unser Territorium, wir können hier tun und lassen, was wir wollen", sagt einer.

Nur wenige stellen sich dagegen

Bei Independiente tobt derzeit ein Krieg zwischen dem neuen Präsidenten Javier Cantero, der sich seit seiner Wahl mutig "La Barra del Rojo" entgegenstellt und ihnen alle Privilegien entziehen will, und der Organisation. Er ist einer der wenigen im Land, der sich vehement gegen die Hooligans stellt.

Die hatten vor einem halben Jahr den damaligen Trainer Antonio Mohamed zum Rücktritt genötigt. Nach einem 0:1 zu Hause gegen Boca Juniors versammelte sich der Mob vor dem Kabineneingang der Mannschaft, der Trompeter stimmte Frederic Chopins "Trauermarsch" an. Eine unmissverständliche Ansage, wenige Stunden später trat Mohamed von seinem Amt zurück. "Ich habe diese Entscheidung nicht gefällt. Es waren die Barra Brava", sagte er danach.

Mobile Einsatztruppen

Neben "La Barra del Rojo" und "La Doce" gehören "Los Borrachos del Tablon" (Die Betrunkenen der Tribüne) von River Plate, "La Gloriosa Butteler" von San Lorenzo und "La Guardia Imperial" von Racing zu den Top Fünf des argentinischen Fußballs.

Im Multi-Millionen-Euro-Business sind die Barra Bravas längst eine feste Größe. Kaum jemand begehrt auf, alle halten den Mund, schauen weg. Oder sind auf die Dienste der Hooligans angewiesen. Als vor zwei Jahren die Gewerkschaft der Eisenbahn zur Arbeitsniederlegung aufrief und die meisten Arbeiter dem Ruf folgten, wurde der Gewerkschaftler Mariano Ferreyra erschossen.

Der Hauptangeklagte ist ein Mitglied der Barra Brava eines mehr oder weniger unscheinbaren Zweitligisten. Er sei aus seiner mobilen Einsatztruppe gesandt worden, um den Streik zu beenden. Von wem, ist bis heute nicht geklärt. Die Spuren führen in Lobbyisten- und Politikerkreise.

Die paramilitärischen Organisationen werden gerne für die ganz schmutzige Arbeit eingesetzt, rücken an, wenn "es was zu regeln gibt". Was in Deutschland die Biker- und Türsteherszene unter sich aufteilt, haben sich in Argentinien und vielen anderen südamerikanischen Ländern die Barra Bravas unter den Nagel gerissen.

Über 250 Todesopfer

Protegiert vom Staat, der Polizei und den Klubs kontrollieren die großen Organisationen Teile des Rauschgift- und Waffenhandels. Das führt zu ständigen Konflikten untereinander. Alleine in und um Buenos Aires sind über 30 Profiklubs angesiedelt. Der Platz auf den lukrativen Märkten ist begrenzt. Also wird gekämpft.

Über 250 Todesopfer haben die Kriege zwischen und innerhalb der Bravas laut Polizeireport nun gefordert. Die Dunkelziffer dürfte noch ein wenig höher liegen. 2002 hat die Regierung nach der blutigsten Saison seit langem mit fünf Toten und etlichen Schwerverletzten den Kampf gegen die Gewalt in und um die Stadien zur nationalen Angelegenheit erklärt. Passiert ist bis heute fast nichts.

Im Gegenteil: Das Monstrum hat sich längst selbstständig gemacht und frisst sich mehr und mehr auch selbst auf. Die Kämpfe finden nicht mehr nur zwischen den Clans statt, sondern auch in den Barras selbst.

Kein Ende der Gewalt in Sicht

Wer aufsteigen will, muss gnadenlos sein. Nicht selten enden die Auseinandersetzungen blutig. Die Rituale nehmen dabei immer mehr Mafia ähnliche Züge an. Mittlerweile werden Mitglieder auch von ehemaligen Kumpanen aus dem eigenen Barra hingerichtet.

Um dem völlig ausufernden Problem Herr zu werden, hat die Regierung eine neue Sicherheitseinheit ins Leben gerufen. Sie soll sich um die korrekte Durchführung von Sportveranstaltungen kümmern. Bisher mit eher mäßigem Erfolg.

Die Barras sind längst zu tief vorgedrungen in die Spitzen von Wirtschaft und Politik, als dass sich etwas ändern würde, nur weil ein paar ihrer Bosse ins Gefängnis wandern. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht.

Argentiniens Länderspielkader

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