Opfer der tickenden Uhr

Von Daniel Reimann
Andre Villas-Boas wurde im Dezember bei Tottenham Hotspur entlassen
© getty

In England gilt Andre Villas-Boas nach seinen Entlassungen beim Chelsea und Tottenham als gescheitert. Statt Anerkennung erntet er Spott. Dabei verbindet beide Kapitel vor allem eines: Die Ungeduld der Vereinsführung.

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Was Giovanni Trapattoni für die Bundesliga war, war Andre Villas-Boas für die Premier League. Nicht etwa in Bezug auf Trainerkompetenz oder Kleidungsstil. Vielmehr in Bezug auf die Sprache und ihre Tücken. Trapattoni erfand zu Bundesliga-Zeiten sein ganz eigenes Deutsch und wurde damit spätestens durch seine dreieinhalbminütige Schimpftirade zum Kultobjekt.

Ähnlich kultig war Villas-Boas' Englisch, das in der Presse als "AVBinglish" firmierte. Sogar in der Autobiografie des ehemaligen Burnley-Bosses Paul Fletcher fand es Erwähnung.

Als Owen Coyle den damaligen Aufsteiger im Januar 2010 verließ, sollte ein neuer Coach Burnleys Mission Klassenerhalt weiterführen. Unter anderem Villas-Boas, zu jener Zeit noch Coach von Academica Coimbra, war in der Verlosung. "Er hatte eine sehr detaillierte und ausführliche Bewerbung für den Job geschrieben", erzählt Fletcher. "Sein Lebenslauf und seine Powerpoint-Präsentation waren beeindruckend."

Spott und Häme für "AVBinglish"

Doch offenbar scheiterte Villas-Boas beim Versuch, sein Konzept in akzeptablem und verständlichem Englisch auszuführen. "Tommy Docherty pflegte zu sagen, er würde seinen Spielern nie Dinge erzählen, die sein Milchmann nicht verstehen könne", schreibt Fletcher weiter. "Ich glaube, kein einziger Milchmann würde die Bedeutung von Villas-Boas' Präsentation ergründen."

Fletcher blieb nicht der Letzte, der sich über "AVBinglish" amüsierte. Villas-Boas' Aussagen waren ein gefundenes Fressen für die englische Presse. Sei es beim Versuch, selbst komplexe Ausdrücke und Redewendungen aus dem Portugiesischen auf Englisch einfach mit den gleichen Worten runterzubrechen oder bei den kleinen Versprechern des Alltags: Villas-Boas erntete jede Menge Spott für sein "AVBinglish".

Zugegeben: Ein kleines Lächeln ist unvermeidbar, wenn jemand den Fußball als "a massive sport in which we are inserted" bezeichnet oder feststellt: "It can go into the equation that the third place becomes nearer to us."

Doch insgesamt war die volle Breitseite an Spott auch nur ein bezeichnendes Symptom im Umgang von Englands Presse mit AVB. Bezeichnend dafür, dass dem 36-Jährigen oftmals ein adäquates Maß an Anerkennung verwehrt blieb.

Mourinhos Mini-Me unter dem Damoklesschwert

Kaum ein Premier-League-Trainer wurde in den letzten Jahren mit derartiger Skepsis beäugt wie Villas-Boas. Bei einem Verein wie Chelsea und der Ungeduld eines Roman Abramowitsch an sich keine Besonderheit. Doch das Damoklesschwert, das über Villas-Boas hing, war aufgrund diverser Umstände besonders locker.

Villas-Boas im Porträt: Yodas Lehrling greift nach den Sternen

Als er zu Chelsea kam, wurde er in erster Linie als überteuertes Mini-Me von Jose Mourinho karikiert. Egal, wie vehement er sich gegen den Vergleich mit seinem früheren Chef beim FC Porto wehrte, er wurde stets an ihm gemessen. So war es ihm beinahe unmöglich, aus Mourinhos Schatten zu springen oder den Rucksack der 15 Millionen Euro Ablöse abzuwerfen.

Stattdessen wurden nach ersten Misserfolgen bereits buchstäblich die Stunden bis zu seinem Rauswurf gezählt. Doch Villas-Boas hatte nicht nur große Teile der Fans und Medien gegen sich. Auch zahlreiche Spieler probten den Aufstand.

Langfristig geplant - kurzfristig gescheitert

Der Portugiese wollte Chelsea auf lange Sicht neu erfinden, dem Verein einen neuen Spielstil einimpfen. Spielertypen, die nicht in sein System passten, mussten zittern. Besonders die ältere Generation um Frank Lampard wurde Opfer von Villas-Boas' Philosophie. Doch das Wort von Lampard und Co. hatte immer noch Gewicht im Team.

"Es gab bestimmte Dinge. Bestimmte Spieler, bei denen es uns nicht gefiel, wenn sie nicht spielten", erzählte Lampard hinterher. Die allgemeine Unzufriedenheit war schon groß genug. Doch als sich mit mehreren Niederlagen die ersten Nebenwirkungen der Systemänderung bemerkbar machten, wurde der Gegenwind aus dem Lager der Oldies noch stärker.

"Sein Plan war langfristig. Aber irgendwo dazwischen lief es in der Gegenwart nicht gut und so entstanden die Probleme. Es war ein Teil seiner Aufgabe, Dinge zu verändern. Aber dabei darfst du die Gegenwart nicht aus den Augen verlieren", sagt Lampard rückblickend.

Eines Tages hörte seine Uhr auf zu ticken. Die Angst um die Gegenwart war an der Stamford Bridge zu groß geworden, um am auf die Zukunft ausgerichteten Konzept festzuhalten.

Spurs: Auf Rekord folgt Umbruch

Es dauerte vier Monate, bis Villas-Boas' Uhr aufs Neue anlief. Er unterschrieb bei Tottenham und wurde Nachfolger von Harry Redknapp, der wegen einer geplatzten Vertragsverlängerung den Verein vorzeitig verlassen musste.

Die Bilanz seines ersten Jahres war fabulös. Mit 72 Punkten stellte er in seiner Debütsaison einen neuen Vereinsrekord auf. Angeführt von einem Gareth Bale in Ausnahmeform zeigte Tottenham unterhaltsamen, bisweilen spektakulären Angriffsfußball. Nur knapp verpassten die Spurs die Champions League. Mit der bitteren Randnotiz, dass 72 Punkte in der Premier-League-Geschichte zuvor immer für die Königsklasse gereicht hatten.

Doch dann kam der Umbruch. Mit Bale verließ der absolute Erfolgsgarant den Verein. Die Ablöse wurde umgehend in Stars wie Christian Eriksen, Roberto Soldado oder Erik Lamela reinvestiert. Allerdings schien klar, dass die Umstellung eines komplett auf Bale ausgerichteten Systems und die Eingliederung zahlreicher Neuzugänge Zeit benötigen würde.

"Ihm wurde keine Zeit zugestanden"

Zeit, die Villas-Boas nicht zugestanden wurde. Tottenham-Boss Levy gab kurzerhand die selbst mit Bale verpasste Königsklasse als Ziel aus und träumte sogar vom Titel. Schneller Erfolg wollte sich aber nicht einstellen. Der Neustart nach Bales Verkauf lief erwartungsgemäß nur schleppend an und ging mit regelmäßigen Rückschlägen einher.

Einer davon brachte Villas-Boas' Uhr schließlich erneut zum Stehen: Die krachende 0:5-Heimpleite gegen Liverpool war zu viel für Levy, der Wochen zuvor schon ein 0:6 bei Manchester City ertragen musste. AVB wurde rausgeschmissen. Trotz der besten Siegesquote aller Tottenham-Trainer der letzten 20 Jahre (53 Prozent). Trotz einer Europa-League-Gruppenphase ohne Punktverlust. Trotz eines gewaltigen Umbruchs, der ohne Rückschläge kaum zu bewältigen gewesen wäre.

Von vielen Fans wurde seine Entlassung offensichtlich begrüßt. Von zahlreichen Medien, die seinen Rauswurf heraufbeschworen hatten und ihm ohnehin besonders skeptisch gegenüberstanden, ebenfalls. Sie waren ihm spätestens nach dem City-Spiel feindlich gesinnt, als er einen Journalisten angeraunzt hatte: "Wenn ich die Chance hätte, dich zu verklagen, würde mich das wahnsinnig freuen."

Doch nicht überall stieß seine Entlassung auf Zustimmung. "AVB ist nun weg! Er musste sieben neue Spieler einbauen, das braucht Zeit, Zeit, Zeit! So ein Blödsinn! Lasst ihn seine Arbeit zu Ende bringen", twitterte United-Legende Gary Neville erbost. Und City-Coach Manuel Pellegrini konstatierte: "Ihm wurde bei beiden Klubs keine Zeit zugestanden."

Die Uhr tickt wieder

Dennoch gilt AVB auf der Insel als gescheitert. Einmal mehr wurde er Opfer der tickenden Uhr. Einmal mehr erhielt er weder ausreichend Zeit noch Anerkennung für seine Arbeit. Keines seiner Premier-League-Projekte konnte er zu Ende bringen und beweisen, dass er auf lange Sicht Erfolg haben könnte.

Eine Tatsache, aus der Villas-Boas mittlerweile Konsequenzen gezogen hat. "Ich habe gelernt, dass es zu 100 Prozent passen muss. Dass ein Klub den Trainer auch wertschätzen muss", sagte er der "Abendzeitung".

Diese Wertschätzung schien ihm offenbar bei Zenit St. Petersburg gegeben. Bei den Russen tritt er die Nachfolge von Luciano Spaletti an, der wegen Erfolglosigkeit entlassen wurde. In Dortmund wird er noch interimsweise von Sergei Semak vertreten, am Donnerstag wird AVB dann offiziell vorgestellt.

Dann beginnt auch seine Uhr wieder zu ticken. Und dann wird sich zeigen, wie viel Geduld die Vereinsbosse in St. Petersburg besitzen...

Andre Villas-Boas im Steckbrief

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