Fanvertreter Christian Bieberstein über ausbleibende Zuschauer: "Die größten Konkurrenten des Fußballs sind Netflix und Amazon Prime"

Von Stanislav Schupp
HSV
© getty

2G oder 3G? Maskenpflicht selbst auf den Plätzen? Und drohen womöglich wieder Geisterspiele? Die aktuelle Coronalage wirft für Fans und Vereine viele Fragen auf. Trotz erhöhter Auslastung in den Stadien bleiben zahlreiche Fans weiterhin weg.

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Christian Bieberstein ist Vorstandsmitglied des Fanbündnisses "Unsere Kurve", einer Vertretung organisierter Fans in Deutschland und Teil der Führungsetage der HSV-Abteilung Fördernde Mitglieder / HSV-Supporters-Club.

Im Gespräch mit SPOX und GOAL spricht er über die unterschiedlichen und fortlaufend wechselnden Regelungen aus Fansicht, den größten Gegner des Fußballs und nennt die Wahrscheinlichkeit einer 100-prozentigen Rückkehr der Ultras.

Außerdem erklärt Bieberstein, welche langfristigen Konsequenzen dem Fußball und seinen Fans drohen und nimmt Stellung zur bisher geleisteten Arbeit der Vereine während der Pandemie.

Christian Bieberstein über ...

... Gründe für das andauernde Fernbleiben der (aktiven) Fanszene: "Das hat mehrere Gründe. Als Fan ist man nach knapp zwei Jahren Corona verhältnismäßig abgestumpft. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Nachdem man lange Zeit gar nicht ins Stadion durfte, sind die aktuellen Zahlen natürlich etwas verwunderlich. Da scheint der finale Funke noch nicht übergesprungen zu sein. Durch den Wegfall vieler Dauerkarten ist der Automatismus abhanden gekommen und die Tickets teurer geworden. Die Fans müssen jetzt mehr Aufwand betreiben, um ins Stadion zu gehen. Die Leute haben auch gehörigen Respekt vor dieser Krankheit und wollen sich dem Risiko nicht aussetzen. Außerdem bringt ein Stadionbesuch teilweise lange Anreisewege mit sich, das wird gerne vergessen. Die wenigsten haben Lust, sich stundenlang mit Maske in den Zug zu setzen. Das stellt für viele eine enorme Tortur dar. Aktuell kommt da noch die nasskalte Jahreszeit hinzu."

... die aktuellen 2G- bzw. 3G-Regelungen und deren fortlaufende Änderungen: "Dass grundsätzlich Regelungen gelten, schreckt die Leute ab. Ein Spiel im Stadion mit Maske und alkoholfreiem Bier zu gucken, ist natürlich nicht erfüllend. Die Vereine versuchen dabei, das aus wirtschaftlicher Sicht Beste und Sinnvollste aus dem Angebot der Regierung herauszuholen. Viele Fans, die nicht geimpft sind, deren Vereine aber eine 2G-Regelung vertreten, fühlen sich benachteiligt. Das sind Diskussionen, die man ernst nehmen muss, solange es keine Impfpflicht gibt. Es fehlt teilweise eine klare Linie bei den Regelungen. Das Hamburger Stadion liegt unweit von der Grenze zu Schleswig-Holstein. Als die Zahlen wieder angestiegen sind, waren die Regelungen dort volkommen wahnsinnig. Das kann ja kaum jemand noch nachverfolgen."

... die Sonderstellung des Fußballs: "Ich finde es nicht gut, wenn sich der Fußball fortlaufend in einer eigenen Blase befindet. Er darf nicht dauernd seine Extra-Würste bekommen. Es werden jetzt Weihnachtsmärkte geschlossen. Da muss man sich die Frage gefallen lassen, wieso man weiterhin ins Stadion gehen darf. Die Corona-Zahl kann man nicht schön lügen. Der Fußball kann sich dabei nicht auf ein Podest heben, was es nicht gibt. Wir leben in einer wirtschaftlich schwierigen Situation und trotzdem werden noch irrsinnige Transfersummen gezahlt. Der Fußball hat überhaupt nichts gelernt. Nur die wenigsten Vereine sind wirtschaftlich nachhaltig aufgestellt."

Überfrachtung des Fußballs: "Die Leute wollen kein Teil davon sein"

... das vermeintliche Erwachen der Fans durch Corona: "Die Diskussionen um die Entwicklung des Fußballs gibt es deutlich länger als Corona. Damals wollte es nur keiner hören, weil die Vereine genug Geld verdient haben und diese Probleme nicht offen lagen. Heute sieht man die starke Abhängigkeit der Vereine von Zuschauereinnahmen und TV-Geldern. In einer finanziell anspruchsvollen Zeit überlegen die Leute jetzt zweimal, wie sie ihr Geld investieren. Für das Geld, was manche Familien über eine Saison für Fußball ausgeben, fahren andere in den Urlaub."

... Möglichkeiten, wie der Fußball wieder an Glaubwürdigkeit gewinnt: "Der Fußball muss sich jetzt neu erfinden, damit die Leute wieder zurückkehren. Aktuell ist er komplette überfrachtet. Anstatt das Ganze auf das Nötigste zu beschränken, versucht man, mit Themen wie der Super League oder einer WM alle zwei Jahre immer mehr draufzupacken. Man blickt mittlerweile gar nicht mehr durch. Die Belastung der Spieler ist immens hoch, es gibt kaum noch Pausen. Die Leute sind nur noch müde und wollen kein Teil davon sein."

... die bisher geleistete Arbeit der Klubs: "Es werden tendenziell nicht einzelne Vereine, sondern vielmehr die Politik bewertet, da die Entscheidungen dort gefällt werden. Den Vereinen sind dementsprechend die Hände gebunden. Die setzen nur das um, was die Behörden anbieten. Der HSV hatte mal den Wunsch eines Hybridmodells zwischen 2G und 3G, bei dem ein Teil der Tribüne ausschließlich für Geimpfte und Genesene und ein anderer auch für Getestete geöffnet gewesen wären. Die Behörde lehnte dies allerdings ab. Seit der Wiedereröffnung der Stadien gab es aber bislang keine Nachweise, wonach ein Spiel als Spreaderevent stattgefunden hat. Die Vereine prüfen alles bis ins kleinste Detail."

Fanvertreter Bieberstein: "Die Melkkuh Fan gibt es nicht mehr"

... die größten Konkurrenten des Fußballs: "Der Fußball wird als Unterhaltungsbetrieb angesehen, auch wenn ich diesen Begriff grausam finde. Der Mensch hat sich daran gewöhnt, die Spiele eher vor dem Fernseher zu verfolgen. Für den HSV sind die größten Konkurrenten nicht mehr St. Pauli oder Werder Bremen, sondern Netflix, Amazon Prime und sonstige private Aktivitäten. Das sind die größten Gegner des Fußballs. Die Leute ziehen das gemütliche Fußballgucken zuhause dem Stadionbesuch vor."

... die Möglichkeit einer Rückkehr zu Geisterspielen: "Ich glaube, dass die Regierung Wert darauf legt, alles aufrechtzuerhalten, weil das ein Stück Normalität zurückbringt. Eine Rückkehr zu den Geisterspielen wird es daher meiner Meinung nach nicht geben, es könnten lediglich die Maßnahmen verschärft werden."

... mögliche langfristige Folgen der Situation für den Fußball und die Fanszenen: "Die Fans werden sich neu erfinden müssen, weil das klassische Stadionerlebnis nicht mehr existiert. Der Fußball steht vor dem Problem, dass der Hype nicht mehr da ist, weil er nicht mehr greifbar ist. Die Aspekte, die beispielsweise in der DFL-Taskforce "Zukunft Profifußball" diskutiert wurden, sind inhaltlich gut, allerdings fehlt es an der nachhaltigen Umsetzung. Das verschreckt viele. Mit jedem Jahr ohne normalen Stadionbetrieb verlieren wir neue Fan-Generationen. Die Jugend wächst vor der Playstation auf und lernt das Stadionerlebnis gar nicht mehr kennen."

... die Wahrscheinlichkeit einer 100%-igen Rückkehr der Ultras: "Die Rückkehr zum einstigen Zuschauer-Boom sehe ich aktuell überhaupt nicht. Die Leute sind von den Regelungen auch zum Teil genervt. Die Vereine werden sich jetzt fragen müssen, wie sie mit der neuen Situation umgehen. Wenn der Fußball nicht aufpasst, wird er es schwer haben, sich wirtschaftlich aufrechtzuerhalten. Steigende Trikot-, Ticket- und Bierpreise: Die Melkkuh Fan gibt es nicht mehr."

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