Andreas Hinkel im Interview über den VfB Stuttgart: "Der Abstieg war ja kein Zufall"

Andreas Hinkel war in dieser Saison zwei Tage "Interimstrainer" beim VfB Stuttgart.
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SPOX/Goal: Die perfekte Überleitung zur aktuellen Situation beim VfB. Wir könnten uns lange darüber unterhalten, wie viele Asse der VfB aktuell in seinen Reihen hat, aber ich würde gerne tiefer gehen. Der VfB durchläuft in dieser Saison ja nicht zum ersten Mal eine extrem schwierige Phase. Was ist das Problem dieses Vereins?

Hinkel: Wenn ich mir die Entwicklung anschaue: Der Abstieg vor zweieinhalb Jahren war ja kein Zufall. Danach hat sich der Verein gut erholt, es wurde eine neue Euphorie entfacht. Unter Hannes Wolf lief es nach dem Aufstieg zwar nicht optimal, aber es war auch nicht so schlecht. Dann kam es zum Trainerwechsel, nachdem Hannes seinen Rücktritt angeboten hatte. Danach ging es in der Rückrunde steil bergauf, obwohl es bei einem Aufsteiger ja normalerweise eher andersherum läuft und es getragen von der Euphorie am Anfang besser läuft. Jetzt steckt der VfB im traditionell schwierigen zweiten Jahr nach dem Aufstieg. Ich kann gar nicht sagen, ob es ein generelles Problem gibt - aber es ist auffällig, dass die Ausschläge, nach oben, aber auch vor allem nach unten, seit einigen Jahren enorm sind.

SPOX/Goal: Wofür steht der VfB denn im Jahr 2018? Ist die fehlende Identität nicht das viel größere Problem, als dass aktuell Nicolas Gonzalez noch Zeit braucht, oder Daniel Didavi leider mal wieder mit Verletzungen zu kämpfen hat?

Hinkel: Woraus entsteht eine Identität? Eine Philosophie wird in jedem Verein von den handelnden Personen vorgegeben. Wenn es dort aber eine große Fluktuation und keine Konstante gibt, wird es schwierig. Wie viele Trainer und Sportdirektoren hatte der VfB in den vergangenen Jahren? Wie viele Präsidenten gab es seit Erwin Staudt?

Hinkel über die Ausbildung: "... keiner spielt beim VfB"

SPOX/Goal: Wolfgang Dietrich ist seitdem jetzt der dritte.

Hinkel: Und er ist mit viel Leidenschaft und Engagement bei der Sache. Die Konstanz, die es immer noch gibt, ist die Qualität der Ausbildung. Darauf legt auch die aktuelle Vereinsführung sehr großen Wert. Ich habe erst vor einigen Wochen eine Studie gelesen, dass kein anderer deutscher Verein den Grundstein für so viele Profikarrieren gelegt hat, der VfB ist dort in Europa in den Top-10. Aber wenn man sich die Namen dann anschaut, egal ob es bekanntere sind wie Joshua Kimmich, Thilo Kehrer oder Timo Werner, oder weniger bekannte wie Milos Degenek oder Sinan Gümüs, keiner spielt beim VfB. Dass da in der Vergangenheit Fehler passiert sind, liegt auf der Hand.

SPOX/Goal: Sie waren damals Teil der "Jungen Wilden", in Nürnberg wurde mit Antonis Aidonis jetzt ein 17-Jähriger eingewechselt, die A-Jugend ist Tabellenführer in der Süd-Staffel. Muss es eine Rückbesinnung geben und wieder mehr Wert auf den eigenen Nachwuchs gelegt werden?

Hinkel: Es ist ja nicht so, dass gar keine eigenen Spieler entwickelt werden. Timo Baumgartl hat eine überragende Entwicklung gemacht und ist U21-Nationalspieler. Berkay Özcan tut sich gerade auch verletzungsbedingt etwas schwer, hat aber auch schon gezeigt, was er für ein Potenzial hat. Man darf auch nicht vergessen, dass es ein riesengroßer Schritt ist von der U19 in die erste Mannschaft. Aber keine Frage, der Verein hätte seinem eigenen Nachwuchs in der Vergangenheit hier und da mehr Wertschätzung entgegenbringen können. So wie jetzt auch Markus Weinzierl ab und zu mal einen Spieler in den Kader zu nehmen und zu zeigen, dass eine Durchlässigkeit im System da ist, kann viel bewirken.

Andreas Hinkel über das Beispiel Borussia Dortmund

SPOX/Goal: Sie haben mit einigen Jungs der aktuellen Mannschaft wie Mario Gomez, Christian Gentner und Andreas Beck noch selbst zusammengespielt. Wie schätzen Sie die Qualität des Kaders ein? Klar ist, dass die ergebnistechnisch überragende Rückrunde, in der einige Spiele glücklich gewonnen wurden, über das wahre Leistungsvermögen hinweggetäuscht hat.

Hinkel: In der Rückrunde hat sich sicher eine besondere Dynamik entwickelt. Die Mannschaft hatte eine gewisse Haltung auf dem Platz. Jeder wusste, hinten brennt nicht viel an und vorne können wir unser Tor schon machen. Der VfB hatte natürlich auch einige Male das nötige Spielglück, ich denke spontan an das verrückte Spiel in Köln. Es spielt sich so viel im Kopf ab. Wenn ich sehe, wie viel mehr Selbstvertrauen die Truppe in Nürnberg nach dem 1:0 hatte, wie die Körpersprache plötzlich eine ganz andere war und Gas gegeben wurde - das war eine echte Befreiung. Jetzt konnte Markus Weinzierl zwei Wochen lang in Ruhe mit dem Team arbeiten. Die personelle Situation entspannt sich auch dadurch, dass Marc-Oliver Kempf und hoffentlich bald auch Daniel Didavi wieder in den Rhythmus finden und Anastasios Donis zurückkehrt. Und bei Mario Gomez wird auch der Knoten platzen. Ich blicke eigentlich ganz zuversichtlich auf die nächsten Wochen.

SPOX/Goal: Generell wird nach wie vor als perspektivische Zielrichtung das erste Drittel der Liga ausgegeben. Einerseits ein verständlicher Anspruch, aber andererseits auch aktuell einfach unrealistisch?

Hinkel: Die Vergangenheit hat gezeigt, wie schnell es im Fußball gehen kann. Wo stand Borussia Dortmund 2008? Und 2011/2012 wird der BVB plötzlich Meister. Damit will ich nicht sagen, dass der VfB diesen Weg gehen kann, aber es zeigt einfach, wie schnell es auch wieder nach oben geht. Ja, die Konkurrenz ist gewaltig, aber das Potenzial des VfB und der Stadt Stuttgart ist auch gewaltig. Da ist Power vorhanden. Der VfB hat in der Vergangenheit ganz sicher nicht alles richtig gemacht. Ein kleinerer Verein wie Freiburg hätte sich davon wahrscheinlich auch nicht mehr erholt - der VfB schon. Das macht mir Hoffnung. (lacht)

SPOX/Goal: Haben Sie also keine Sorge, dass der VfB in dieser Saison erneut absteigen und sich dann vielleicht nicht ein zweites Mal so schnell erholen könnte?

Hinkel: Der Verein darf die Situation auf keinen Fall unterschätzen und muss respektvoll mit ihr umgehen. Ich bin kein Freund davon zu sagen, dass ja noch so viele Punkte zu vergeben sind und die Qualität ja eigentlich viel höher ist. Das habe ich 2001 am eigenen Leib erfahren, als Krassimir Balakow am vorletzten Spieltag in der 90. Minute das 1:0 gegen Schalke, die im Meisterrennen waren, geschossen hat, um uns zu retten.

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