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Nach der offenen Kritik von Russell Wilson: Müssen sich die Seahawks Sorgen machen?

Russell Wilson ließ mit einigen Aussagen in Seattle die Alarmglocken klingeln.
© getty

Vor rund einer Woche sorgte Seahawks-Quarterback Russell Wilson für Aufsehen. Wilson prangerte öffentlich die Pass-Protection der Seahawks an und beschwerte sich darüber, dass er zu viele Sacks und Hits einsteckt. Seitdem brodelt die Gerüchteküche in Seattle - doch wie ernst steht es um die Beziehung zwischen dem Team und seinem Superstar?

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Vielleicht hatte der Super Bowl, in dem Patrick Mahomes immer und immer wieder herumrennen musste, um dem Pass-Rush der Tampa Bay Buccaneers auszuweichen, noch ein wenig nachgewirkt. Vielleicht hatte das Spiel gewissermaßen den idealen Anlass geliefert, um das Thema genau jetzt auf den Tisch zu bringen.

Doch klar scheint: Es war kein Schuss aus der Hüfte, keine überhastete Reaktion, als Russell Wilson erst in der Dan Patrick Show, und dann später in einem Call mit Medienvertretern ganz offen über seine Sichtweise auf den Zustand der Seahawks-Offense und deren größte Baustelle erläuterte.

Aussagen wie "es frustriert mich, dass ich so viele Hits kassiere", oder "wir müssen an der Line besser werden, nicht nur, was das Passing angeht - da kontrolliert man das Spiel", gekrönt von "für mich persönlich ist es wichtig, dass wir alles tun, ich inklusive, um sicherzustellen, dass das nicht passiert" - diese Statements sind nicht aus dem Augenblick heraus entstanden.

Vielmehr wirkte es einerseits wie ein Thema, das schon seit einer Weile in Russell Wilson gärt, andererseits aber auch wie eine von langer Hand geplante Aussage. Wilson wird wissen, was für ein mediales Echo solche deutlichen Worte kreieren. Umso mehr, da bereits am Super-Bowl-Wochenende im NFL Network zu hören war, dass Teams Seattle wegen eines möglichen Trades für Wilson angerufen haben.

Die Seahwaks schoben diesen Anfragen wohl prompt einen vehementen Riegel vor, ein möglicher Wilson-Trade sollte hier auch nicht das Thema sein.

Doch was genau ist das Thema? Welche Entwicklung lässt sich bei Wilson nicht von der Hand weisen - und was bedeutet das für die weitere Dynamik zwischen den Seahawks und ihrem Quarterback?

Seahawks: Russell Wilson und die "Let Russ Cook"-Bewegung

Erwähnenswert ist zunächst einmal, dass dieses Phänomen nicht zum ersten Mal zu beobachten ist. Auch im Rahmen des vergangenen Super Bowls machte Wilson die Medien-Runde, und auch damals nutzte er die Bühne und die teilnehmenden Teams, um auf seine eigene Situation aufmerksam zu machen.

"Wir waren schon immer eine sehr gute 2-Minute-Offense, wir waren immer sehr gut, wenn wir spät in der Halbzeit den Ball hatten, in diesen Up-Tempo-Momenten. Die Defense wird dabei müde, aber ich weiß in diesen Momenten auch genau, wo ich attackieren will und die Jungs machen in diesen Momenten Plays", betonte Wilson damals.

Und weiter: "Die Freiheit, zu attackieren und möglichst viel zu attackieren - im Prinzip das, was die Chiefs machen. Andy Reid und Patrick Mahomes machen das Spiel über ihre Playmaker und sie machen mehr Punkte als jedes andere Team. Und das ist denke ich der Kern des Spiels: Kannst du mehr punkten als dein Gegner? Da gibt es viele Ansätze, und wir haben selbst viele Spiele gewonnen über die letzten Jahre. Aber die Erwartung ist auch, im Super Bowl zu spielen und den Titel gewinnen."

Die "Let Russ Cook"-Bewegung - das Motto einer großen Gruppe an Seahwaks-Fans und -Analysten, welche die Seahawks-Offense mehr in Wilsons Hände legen und weniger das Run Game die Identität definieren lassen wollten - entstand nicht in der vergangenen Offseason. Aber sie erlebte ihren größten Hype, weil Wilson selbst plötzlich Spiritus in die Flammen kippte.

Das Resultat war eine Offense, die gerade in der ersten Saisonhälfte den Ball mehr warf als jedes andere Team und insbesondere bei Early Downs den Fuß auf dem Gaspedal hielt. Wilson durfte kochen.

Russell Wilson mit offener Kritik gegenüber Mitspielern

Wilson, und diese Erkenntnis sollte man für die weitere Offseason im Hinterkopf behalten, hatte seine Position also erfolgreich genutzt, um mit seiner Stimme und der Wirkung seiner Aussagen etwas auf dem Platz zu verändern. In wie weit die Seahawks vielleicht auch ohne all das ihre Offense geändert hätten, darüber lässt sich spekulieren. Doch ziemlich sicher scheint, dass Pete Carroll ohne einen starken Impuls nicht plötzlich die Pass-lastigste Offense der Liga verantwortet hätte.

Hier lässt sich wieder der Bogen zu seinen Kommentaren aus diesem Jahr spannen, die nochmal deutlich weiter gehen. Wilson sprach nicht über die generelle Richtung des Teams, oder eine weit gefasste offensive Idee. Vielmehr sagte er ganz klar, dass die Offensive Line über die letzten Jahre nicht gut genug war, und dass Seattle hier besser werden muss, oder anders gesagt: Er übte Kritik an der Kaderzusammenstellung und an den Mitspielern in einer Deutlichkeit, die man selten von einem Star-Quarterback hört.

Namentlich als einzigen stellte er Left Tackle Duane Brown heraus und betonte, wie wichtig dessen Verpflichtung damals für die Line war. Right Guard Damien Lewis und Right Tackle Brandon Shell, die vermutlich auch in die kommende Saison als Starter gehen werden, dürften Wilsons Aussagen mit einigem Zähneknirschen vernommen haben.

Doch der übergreifende Takeaway ist ein anderer. Wilson hat gemerkt, welche Macht er mit seiner Stimme hat. Und ganz offensichtlich ist er gewillt, diese Macht strategisch einzusetzen. Auch die Tatsache, dass er Brown so deutlich von der Kritik ausnahm, unterstreicht diesen Gedanken. Seattle tradete 2017 einen Zweit- und Fünftrunden-Pick sowie Cornerback Jeremy Lane nach Houston, um sich die Dienste des Left Tackles zu sichern.

Watson und Co.: Die Quarterbacks entdecken ihren Einfluss

Diese Entwicklung passt in das Bild der NFL dieser Tage, in der die Top-Quarterbacks merken, wie lang der Hebel eigentlich ist, an dem sie sitzen. Da wäre Aaron Rodgers, der die ganze Saison über ganz offen in der Pat McAfee Show wöchentlich seine Meinung teilte und bereits im Vorfeld der Saison offen darüber gesprochen hatte, welchen der Receiver er im Draft ganz gerne gehabt hätte.

Oder Deshaun Watson, der zwar gerade erst langfristig in Houston verlängert hat, sich seitdem aber mit der Teamspitze überworfen hat und trotz des Vertrags drauf und dran ist, einen Trade zu forcieren.

Die meisten Spieler in der NFL haben in diesen Debatten nahezu keine Macht; insbesondere im Vergleich etwa mit der NBA fällt auf, wie schwach die Position der Spieler ist. Aber es gibt einzelne Akteure - eben die Franchise-Superstar-Quarterbacks -, die ernsthafte sportliche Veränderungen herbeiführen können, indem sie das Gewicht ihrer Stimme in der Öffentlichkeit nutzen.

Russell Wilson und die Sacks: Wie viel ist selbstverschuldet?

Erwähnenswert ist das Timing auch dahingehend, dass die Seahawks sich gerade von Offensive Coordinator Brian Schottenheimer getrennt haben. Eine Entscheidung, die bei Wilson wohl auf nicht allzu viel Gegenliebe gestoßen ist. Und interessant ist das Timing auch, da Wilson selbst eine sehr durchwachsene zweite Saisonhälfte gespielt hat. Unabhängig davon, dass die Offensive Line nicht zur Liga-Spitze gehörte. Er führt damit die Konversation und blättert die Seite um. Weg von seinen enttäuschenden Leistungen in der heißen Saisonphase.

Und so gilt es, seine Aussagen auch inhaltlich aufzuarbeiten. Es ist gar nicht so, dass Seattle keine Ressourcen in die Line gesteckt hätte. Letztes Jahr starteten unter anderem ein Zweitrunden-Pick (Ethan Pocic) und ein Drittrunden-Pick (Damien Lewis) neben Brown, der auch nicht für ein Trinkgeld spielt. Gleiches gilt für Right Tackle Brandon Shell.

Doch abgesehen von Brown und mit Abstrichen noch Shell war die sportliche Qualität - und hier trifft Wilson definitiv einen Punkt - nicht gut. Lewis und Pocic ließen beide je über 20 Pressures zu, auf Left Guard war weder Jordan Simmons, noch Mike Iupati eine verlässliche Antwort. Nimmt man die "Pass Block Win Rate" von ESPN, dann hatte Wilson nach dem ersten Saisondrittel zumeist tatsächlich schlechte Protection vor sich.

Darüber hinaus ist Wilson, und auch das sprach er zumindest kurz an, für einige der 394 Sacks, die er über die letzten neun Jahre eingesteckt hat, für nicht wenige selbst verantwortlich. PFF rechnet knapp über 100 dieser Sacks in Wilsons Verantwortungsbereich, weil er den Ball zu lange hielt, weil er versuchte, noch spät im Down etwas zu kreieren.

Diesen Aspekt gilt es, nicht zu vergessen. Die Seahawks haben über die letzten Jahre keine gute Arbeit bei der Zusammenstellung der Offensive Line geleistet - und gleichzeitig sind Quarterbacks maßgeblich selbst für die Anzahl der Hits und Sacks verantwortlich, die sie kassieren. Beide diese Dinge können zutreffen, und im extremsten Fall eben, wie bei den Seahawks über die letzten Jahre häufiger zu sehen, schaukeln sich beide Aspekte noch gegenseitig hoch.

Seahawks: Wilson will in die Kaderplanung involviert werden

Doch Wilsons neu gefundene öffentliche Stimme endet nicht mit der Kritik an der Line oder dem Wunsch nach mehr Fokus auf das Passspiel. Wilson sprach vielmehr zusätzlich auch ganz offen darüber, dass er bei der Kaderplanung ein Wörtchen mitreden will. "In diese Konversationen involviert zu werden, weiterhin involviert zu sein - ich denke, wenn man Drew Brees oder Peyton Manning oder gerade jetzt Tom Brady fragt, bei ihm hat man in diesem Jahr gesehen, wie sehr er in den gesamten Prozess involviert war", erklärte Wilson. "Das ist mir wichtig."

Russell Wilson ist ein 32-jähriger Top-5-Quarterback mit einem Vertrag bis einschließlich 2023. Die Seahawks werden sich nicht von Wilson trennen, nicht auf absehbare Zeit, und insofern kann man einerseits sagen, dass er gerade in der Öffentlichkeit ein wenig zockt - doch gleichzeitig scheint das Risiko für ihn relativ klein zu sein. Er ist der wichtigste Spieler der Franchise, und sollten die Seahawks ihn aufgrund derartiger Äußerungen wirklich loswerden wollen, dann hätte er einen gigantischen Markt an potenziellen Interessenten.

Es wäre wohl zu extrem, würde man sagen, dass Wilson am längeren Hebel sitzt. Und doch ist offensichtlich, dass die Quarterback-Elite der Liga nicht nur erkannt hat, wie viel Macht sie eigentlich besitzt, sondern diese auch mehr und mehr nutzt. Zu beobachten, wie sich diese Dynamik weiter entwickelt, wird spannend zu beobachten sein. Insbesondere in Seattle, wo Shane Waldron jetzt in den Mittelpunkt rückt.

Waldron ist nicht nur Schottenheimers Nachfolger, sondern er ist auch in gewisser Weise womöglich schematisch gut dafür geeignet, als Vermittler zwischen Wilson und Pete Carroll zu dienen. Waldron kommt aus der Offense von Sean McVay, in der viel auf dem Run Game aufbaut - die gleichzeitig aber auch überaus Quarterback-freundlich ist und in der Quarterbacks in aller Regel vergleichsweise wenig unter Druck stehen.

Hier wiederum zeigte Wilson sich regelrecht begeistert. "Ich denke, dass Shane ein großartiger Coach sein wird", betonte er letzte Woche. "In meinen Augen hat er alles, was man in puncto Spielverständnis und was seine Erfahrung angeht sehen will."

Außerdem könne man sehen, dass er "diesen It-Faktor hat. Er will Großes erreichen." Diese Aussage trifft auch weiterhin auf Russell Wilson selbst zu, daran besteht kein Zweifel. Die Seahawks werden jetzt abermals einen offensiven Identitätswechsel durchlaufen und sollten Wilsons Signale dabei keineswegs ignorieren. Denn sonst könnte in der Offseason 2022 der Grill in Seattle zum Flächenbrand mutieren.

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