Olympia kompakt: Zwei Stunden, in denen alles schiefging

Von Stefan Petri
Johannes Vetter an Boden: Der große Favorit beim Speerwurf ging am Ende leer aus.
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Der vorletzte Wettkampftag der Olympischen Spiele in Tokio beginnt aus deutscher Sicht höchst erfreulich - doch dann geht so ziemlich alles schief, was schiefgehen kann. Außerdem diesmal bei Olympia kompakt: Kinderfotos mitten in der Nacht, Tränen am Ufer, ein Bond-Bösewicht und "Bastarde, die den Krieg gegen den russischen Sport begonnen haben".

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In meinem Lieblingsfilm von Bud Spencer und Terence Hill ("Die rechte und die linke Hand des Teufels") gibt es eine Szene, in der Sheriff Bud seinen erst kürzlich vereidigten Deputy Terence zur Schnecke macht: "Ein Laden verwüstet, zwei Männer beinahe zu Krüppeln geschlagen, einem die E*** weggeschossen, ein Toter - und das alles in zwei Stunden. Zwei Stunden habe ich dich allein gelassen, aber das hat genügt." Seit meiner Kindheit weiß ich also, was in zwei mickrigen Stunden alles schiefgehen kann. An diesem Olympia-Samstag hätte ich das allerdings nicht erwartet.

Los ging das Drama um etwa 11.40 Uhr, als sich Karateka und Ex-Weltmeister Jonathan Horne in seinem Kampf - in Führung liegend, fünf Sekunden vor dem Ende! - so schwer am Arm verletzte, dass er schreiend auf der Matte lag und schließlich mit einer Trage abtransportiert werden musste. Horne, einer der Favoriten auf Gold, hatte sich wohl das Ellbogengelenk ausgerenkt. Die Spiele hatten für ihn kaum begonnen, da waren sie schon beendet.

Der Deutsche Jonathan Horne war nicht der einzige Karateka, der sich am Samstag verletzte.
© getty
Der Deutsche Jonathan Horne war nicht der einzige Karateka, der sich am Samstag verletzte.

Fast zeitgleich hatte sich Lea-Sophie Friedrich in ihrem Bahnrad-Sprint-Viertelfinale grandios gegen die Ukrainerin Olena Starikova geschlagen, musste aber dennoch die Hoffnungen auf eine Medaille begraben. Um genau eine Tausendstel verlor sie den ersten Lauf, dominierte im zweiten - und verlor schließlich den Decider auf den letzten zwei Metern. Klar, im Velodrome geht es fast immer knapp zu, aber das ist schon extrem bitter. Hätte Friedrich es neben Emma Hinze ins Halbfinale geschafft, Deutschland hätte mindestens eine Medaille sicher gehabt. So ruhen die Hoffnungen am Sonntag auf Hinze.

Weiter ging es bei den Springreitern, die am Vortag in der Qualifikation allesamt ohne Abwurf durch den Parcours gekommen waren. Diesmal handelten sich Andre Thieme und Maurice Tebbel an den letzten zwei Hindernissen insgesamt zwölf Strafpunkte ein, Daniel Deußer auf Killer Queen schaffte es dann nicht einmal durch den Parcours. Sein Pferd verweigerte, er gab auf, Medaillentraum geplatzt. Gut, es hätte schlimmer kommen können ...

Johannes Vetters Rücken.
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Johannes Vetters Rücken.

Die "Krönung" gab es dann im Nationalstadion bei Johannes Vetter. Der Speerwurf-Gigant, der seine letzten 19 Wettkämpfe gewonnen hatte und unter anderem ein Spartiaten-Tattoo im "300"-Stil auf dem Rücken trägt, kam mit der aufgeweichten, rutschigen Anlaufbahn nicht zurecht und war nach drei Durchgängen natürlich genau Neunter, sodass er keine weiteren Versuche bekam, um doch noch einen rauszuhauen. Um 13.40 Uhr deutscher Zeit waren seine Spiele beendet (natürlich wurde Julian Weber kurz vor Schluss auch noch die Bronze-Medaille entrissen. Wenn es läuft, dann läuft es).

Zwei bittere Stunden. Natürlich werfe ich hier viel in einen Topf, und vor allem anderen gehen hier Grüße und Genesungswünsche an Jonathan Horne raus, dessen Verletzung deutlich schwerer wiegt als etwa ein verpasstes Halbfinale. Irgendwie erschienen mir diese rund 120 Minuten aber symptomatisch für die Spiele aus deutscher Sicht: Irgendwas geht fast immer schief - sei es ein Sturz, eine Verletzung, eine Tausendstelsekunde, die Bedingungen oder einfach nur das fehlende Wettkampfglück.

Und so steht Team D derzeit nur auf Rang sieben im Medaillenspiegel, deutlich schlechter als noch in Rio, und könnte am Sonntag womöglich noch hinter die Niederlande, Italien oder Frankreich zurückfallen.

Deprimierend. Schnell zu etwas Erfreulichem!

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Was sonst noch wichtig war:

Kanu: 39 Jahre ist Ronald Rauhe alt. Eigentlich hat er schon alles gewonnen, angefangen von Gold in Athen 2004 (!) und seinen schlappen 16 WM-Titeln. Warum sich also doch noch einmal jahrelang schinden? Weil die Familie hinter ihm stand: Ehefrau Fanny Rauhe, Olympiasiegerin von Peking 2008, und Sohn Til hatten ihm einen Haufen mit Briefen mitgegeben, jeden Tag durfte er einen öffnen. Zum Wettkampf über die 500 Meter im Kajak-Vierer erreichte ihn dann noch ein Foto von Knirps Til, der um drei Uhr nachts aufgestanden war, um ihn anzufeuern. Trotz Einschulung am gleichen Tag. Mit dieser Motivation im Rücken reichte es dann zum Wimpernschlag-Gold gegen Spanien. Gut gemacht, Til! Hoffentlich war ein Haufen Schokolade in der Schultüte.

Mod. Fünfkampf: Es wurde ja eigentlich schon alles gesagt zum Auftritt von Annika Schleu und Kim Raisner gestern. Schön zu sehen, dass so ziemlich alle Verbände und Vereinigungen, die irgendetwas mit dem Sport oder dem Reitsport an sich zu tun haben, mittlerweile Veränderungen gefordert haben. Besser spät als nie, schätze ich. Nur einen haben die Bilder offenbar kalt gelassen: Fünfkampf-Weltverbandspräsident Klaus Schormann.

75 Jahre alt ist der Deutsche, und sieht sich wohl als zweiten Sepp Blatter, oder zumindest Thomas Bach. Selbstkritik gibt's nämlich nicht. "Alles war genial, alles war super", sagte Schormann, von Nebenberuf offenbar Bösewicht in Bond-Filmen. "Vielleicht gab es ein paar Momente, von denen man sagen kann, dass sie nicht so schön waren, aber ich kann ihnen sagen: Die Pferde sind absolut ausgezeichnet." Schuld hätten wenn dann nur die Athleten. Wahrscheinlich sah er sich seiner Meinung dadurch bestätigt, dass bei den Männern heute "nur" vier Starter punktlos blieben, weil sie mit ihren zugelosten Pferden nicht durch den Parcours kamen. Na dann ist ja alles in Ordnung!

Tränen des Tages: Sebastian Brendel

Der Canadier-Gigant wollte eigentlich seine dritte Goldmedaille in Folge gewinnen - das Ding war ähnlich fest eingeplant wie der Sieg von Johannes Vetter. Doch wo der vor allem am grausigen Untergrund scheiterte, musste der 33 Jahre alte Brendel feststellen, dass es diesmal einfach nicht reichte. "Ich habe gemerkt, dass ich mit den Besten nicht mithalten kann", sagte er nach Platz sieben im Halbfinale. Das A-Finale sah er sich vom Ufer an und verdrückte nach eigener Aussage "einige Tränen", bevor er im B-Finale antrat: "Ich wollte meiner Familie und allen nochmal zeigen, dass ich kämpfe". Mehr kann man nicht verlangen.

Lokomotive des Tages: Michael Mörköv

Dass sich Bahnradfahrer auf der Straße versuchen und umgekehrt, ist ja nichts Neues. Grüße gehen an dieser Stelle raus an Roger Kluge, der schon bei der Tour de France im Juli gestürzt war und jetzt im Madison-Finale wieder unfreiwillig auf der Bahn gelandet war. Gegen einen Mörköv hätte er aber wohl ohnehin keine Chance gehabt. Der hatte in Frankreich für Sprint-Altmeister Mark Cavendish dermaßen überragend den Anfahrer gegeben, dass Cavendish fast nur noch über die Ziellinie rollen musste. Und jetzt gab es für den 36-Jährigen auch noch Madison-Gold an der Seite von Lasse Norman Hansen. Würde mich nicht wundern, wenn wir Mörköv im Winter in Peking als Bob-Anschieber sehen oder so.

Tritt des Tages: Tareg Hamedi

Tragisch, aber selbstverschuldet. Der Saudi-Arabier lag im Karate-Finale im Schwergewicht schon 4:1 gegen Sajad Ganjzadeh aus dem Iran in Führung, doch dann traf er ihn mit einem Tritt am Hals. Unabsichtlich natürlich, aber der verletzte Ganjzadeh musste zunächst mit Sauerstoff versorgt werden und wurde dann wie schon zuvor Jonathan Horne auf einer Trage von der Matte gebracht. Hamedi wurde disqualifiziert, bekam aber immerhin noch Silber. Aus Karate-Sicht hätte man sich zweifellos ein schöneres Olympia-Debüt gewünscht.

Sprüche des Tages

"Die Bastarde, die den Krieg gegen den russischen Sport begonnen haben, haben sich vor der ganzen Welt für eine Fälschung entschieden." (Sprecherin des russischen Außenministeriums bei Telegram, nachdem Dina Awerina in der rhythmischen Sportgymnastik nur Silber gewann)

"Papa ist jetzt fertig, ab jetzt ist es sein Tag." (Kajak-Olympiasieger Ronald Rauhe über die Einschulung seines Sohnes nach dem Finale)

"Ronny war unser Bootspapa, der uns immer zusammengehalten hat." (Max Lemke über Teamkollege Ronald Rauhe)

"Ich bezahle ein wenig für das Sprint-Turnier, ich bin ja keine 20 mehr. Mein Körper schreit eigentlich nach Ruhe, aber mein Herz versteht es nicht und sagt: weiter, immer weiter." (Bahnrad-Sprinter Maximilian Levy, 34 nach dem Einzug ins Keirin-Viertelfinale)

"Es ist ganz komisch. Meine Gefühle haben nach der Ziellinie, als ich wieder ein bisschen denken konnte, dreimal gewechselt." (Leichtathletin Konstanze Klosterhalfen nach ihrem achten Platz über 10.000 m)

"Das ist wirklich ein Drama. Es ist eine Katastrophe, ich bin tieftraurig für Johannes, für Boris, für unseren Verein und für Offenburg." (Ex-Speerwerferin Christina Obergföll über die verpasste Medaille von Goldfavorit Johannes Vetter)

Javale Mcgee (l.) an der Seite von Teamkollege Bam Adebayo.
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Javale Mcgee (l.) an der Seite von Teamkollege Bam Adebayo.

Zahlen des Tages

3 Goldmedaillen für Frankreichs Handball-Legende Nikola Karabatic. Tokio waren die fünften Spiele für den 37-Jährigen.

6-8 Medaillen wollten die deutschen Rennsport-Kanuten laut DKV-Sportdirektor Jens Kahl gewinnen. Am Ende waren es drei (1-1-1).

11 Medaillen hat Leichtathletin Allyson Felix aus den USA nach ihrem Gold bei der 4x400-m-Staffel gewonnen. Den Rekord des Finnen Paavo Nurmi (12) verpasste sie ganz knapp.

37 Jahre nach seiner Mutter Pamela hat US-Basketballer Javale McGee die Goldmedaille gewonnen. Der Frau Mama war das 1984 in Los Angeles gelungen. Mutter und Sohn mit Gold im Basketball hat es noch nie gegeben.

37 Medaillen hat Team D einen Tag vor dem Ende der Spiele gewonnen. Chef de Mission Rio Schimmelpfennig: "Wir liegen unterhalb des Korridors von 40 bis 45 Medaillen und haben deutlich weniger Goldmedaillen gewinnen können als in Rio."

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