Long Island Mythbuster

Chris Algieri peilt gegen Manny Pacquiao die große Sensation an
© getty

In der Nacht von Samstag auf Sonntag trifft Chris Algieri (20-0-0) in der Cotai Arena im chinesischen Macau auf den WBO-Weltmeister im Weltergewicht Manny Pacquiao (56-5-2). Als Zwischenschritt vor dem ersehnten Traumkampf des Filipinos gegen Floyd Mayweather Jr. gesehen, will der Außenseiter aus New York zum Spielverderber werden und eine Karriere krönen, die so gar nicht zu den Mythen des Boxsports passen will.

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"Winner by split decision and new WBO junior welterweight champion of the world", hallt Michael Buffers Stimme durch das Barclays Center in Brooklyn. Ein Gemisch aus Tränen und Blut fließt über Chris Algieris linke Wange. Es wäre wohl auch auf der anderen Seite der Fall, doch das rechte Auge des neuen Weltmeisters ist bis zur Unkenntlichkeit geschwollen. Dem Urteil vorausgegangen war eine erbitterte Ringschlacht.

Dabei schien der Traum des Außenseiters aus New York bereits früh zu zerplatzen. Schon in der ersten Runde beförderte eine krachende Linke seines Gegners Ruslan Provodnikov Algieri auf den Ringboden. Zwar kam der 30-Jährige innerhalb weniger Sekunden wieder auf die Beine, doch schienen die Hände Provodnikovs nur wenige Augenblicke später erneut überall zu sein. Nach weiteren harten Treffern kniete Algieri ab.

Der Russe wollte ihn brechen und war auf dem besten Weg, doch im Endeffekt schuf er einen Gegner, den er nicht bezwingen konnte. Als er im Ring kniete, wusste Algieri, dass es dieser Moment war, der über seinen Charakter entscheiden würde. Es war keine Frage des Geistes, der beim Master-Absolvent des New Yorker Institute of Technology zumeist das Leben bestimmte, sondern des Herzens.

Er beschloss zumindest zu kämpfen. Trotz eines komplett geschwollenen Auges, eines heftig blutenden Cuts sowie einer angebrochenen Nase, war es Algieri, der zur Überraschung vieler in den nachfolgenden Runden mehr Treffer setzte. Es war ein Duell, geführt mit offenem Visier und letztlich ein Sieg des Willens. Der Charaktertest war bestanden.

Gegen alle Regeln

Algieri wurde an diesem Abend nicht nur zum Weltmeister, sondern zu einem anderen Boxer. Das Aufeinandertreffen mit Provodnikov wurde zur Bestätigung seines unbändigen Willens und einer Karriere, die so gar nicht den Klischees des Boxsports folgen wollte.

Kein Überlebenskampf auf den Straßen einer Großstadt und auch keine Suche nach einem Ausweg in ein besseres Leben zeichneten die Jugend des neuen Champions aus. Stattdessen wuchs er behütet in einer ruhigen Nachbarschaft auf und genoss eine gute Bildung. Das Boxen bekam er dennoch früh mit auf den Weg.

"Ich saß als kleiner Junge auf dem Schoß meines Großvaters, der in Argentinien geboren war", erinnert er sich: "Wir schauten immer zusammen Boxen und Fußball. Jeden Samstag verbrachten wir damit. Er erzählte mir viele Geschichten, vor allem von Carlos Monzon und Alexis Argüello." Es sind Erzählungen, die noch heute seine Augen zum Strahlen bringen.

Zunächst eiferte er allerdings seinem großen Bruder Michael nach, musste jedoch schnell feststellen, dass dies vergebens war. Stattdessen las er gerne und liebte es zu zeichnen. Hobbies, denen er bis zum heutigen Tag nachgeht. Erst als er im Alter von zehn Jahren mit Karate anfing, war seine Leidenschaft entflammt. Er versuchte sich in der High School im Ringen und blieb letztlich beim Kickboxen hängen. Ein Facettenreichtum, von dem er noch Jahre später profitiert.

Zurück zum Ursprung

Obwohl er große Erfolge feierte und unter anderem Weltmeistertitel im Weltergewicht sowie Halbmittelgewicht gewann, entschied sich Algieri nach 20 Kämpfen ohne Niederlage, sieben davon als Profi, das Kickboxen ruhen zu lassen und sich dem Boxen zuzuwenden. Eine Entscheidung mit Folgen, fehlte ihm doch der Amateur-Hintergrund, auf den heutzutage sehr großen Wert gelegt wird.

Auch durch seine Herkunft und seinen Werdegang abseits des Rings sah er sich mit paradoxen Vorurteilen konfrontiert. Der Mythos, dass sich die wahren Kämpfer auf den Straßen herauskristallisieren, dass der Hunger mit dem Streben nach einer besseren Zukunft entsteht, verfolgte ihn über Jahre. Viele sprachen ihm den Willen und gar das Herz ab.

"Ja, ich musste nie kämpfen, um mir eine bessere Zukunft zu erarbeiten. Ich habe während meiner gesamten Zeit als Sportler immer meine Bildung vorangetrieben. Im Ring stehe ich nur aus einem einzigen Grund: Weil ich es liebe", entgegnete der 30-Jährige stets. Einen Nachteil sah er darin nie - die Promoter schon. Bevor er gegen Provodnikov den endgültigen Gegenbeweis antreten konnte, musste deshalb zunächst das Schicksal eingreifen.

Wink des Schicksals

"Ich war gerade 17, Tim 28 oder 29", erinnert sich Algieri an das erste Zusammentreffen mit seinem jetzigen Trainer Tim Lane: "Er war ein ausgezeichneter Kickboxer von Weltklasseformat und hat jemand zum Sparring gesucht. Wir standen sieben Runden im Ring - und ich habe wohl noch nie so viel einstecken müssen, wie in diesen Minuten. Er versuchte mit aller Kraft mich auszuknocken, allerdings ohne Erfolg."

Die Bewunderung Lanes war ihm sicher. Der US-Amerikaner bot ihm an, ihn zu trainieren - ein wichtiger Schritt. Doch auch mit Lane an seiner Seite wurde es zunächst nicht unbedingt leichter. "Ich habe auf dem Boden geschlafen, auf einer kleinen Matratze. Wir haben Kartons als Tische benutzt. Wir hatten nichts", blickt der Italo-Amerikaner zurück.

Zusammen mit seinem Coach trainierte er deshalb in vielen Gyms, immer mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen. Zwar gelang ihnen dies in den folgenden Monaten tatsächlich des Öfteren, jedoch wurde Algieri immer wieder durch Verletzungen ausgebremst. Der Weg schien verbaut, der Traum ausgeträumt.

Vergangenheit als Lehre

Er hatte Alternativen, eine gute Bildung und hätte jederzeit aufhören können. Doch er folgte seinem Herzen - und wurde belohnt. Joe DeGuardia nahm ihn bei Star Boxing unter Vertrag, die Perspektive verbesserte sich. Unter anderem absolvierte Algieri ein vierwöchiges Training in der Akademie von Robert Garcia. "Chris ist ein guter Junge", erinnert sich der Star-Trainer: "Er hat ein gutes Camp und ein ebenso gutes Sparring hinter sich. Er ist einer der Kämpfer, die immer alles geben, die immer hart arbeiten. Ich sehe großes Potential in ihm."

Garcia sollte Recht behalten. Es folgten Siege gegen Jose Alejo, Mike Arnaoutis und den hochgehandelten Emmanuel Taylor, die damalige Nummer vier der IBF-Rangliste. Die Krönung war jedoch der Titelgewinn gegen Provodnikov.

Verändert hat sich Algieri durch seine Erfolge nicht. Sein Auftreten ist ebenso intelligent wie bescheiden. Er ist bodenständig, wohnt noch immer im Keller des Hauses seiner Familie in Long Island und hat gerade erst die letzte Rate in Höhe von 40.000 Dollar für sein Studium abbezahlt. Während andere Boxer mit Limousinen vorfahren, schwört Algieri auf seinen alten Honda Accord, der bereits mehr als 200.000 Kilometer auf dem Tacho hat. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Wert der Arbeit

Ein wichtiger Grund dafür dürfte die Tatsache sein, dass er nichts geschenkt bekam. Keine begradigten Wege, keine perfekten Aufbaugegner und vor allem keine geschenkten Titel. Auch ein Vollzeitprofi war er bis Mitte dieses Jahres nie.

Um seine Rechnungen zahlen zu können, arbeitete er nach seinem Abschluss als Ernährungsberater und Personal Trainer. "Ich habe auch am Dienstag in der Woche des Kampfes noch gearbeitet und Klienten betreut", erinnert sich Algieri an die Vorbereitung auf das Duell gegen Provodnikov: "Von Profisportlern bis hin zu Müttern, die nach einer Schwangerschaft wieder in Form kommen wollten, war alles dabei."

Deshalb hat auch das Leben abseits des Rings eine gänzlich andere Bedeutung für ihn. "Die Medizinische Fakultät ist das nächste große Ziel in meinem Leben", so Algieri: "Es gibt keine Zweifel, mein Geist ist noch immer hungrig und ich will mich weiterbilden. Im Moment befindet sich dieser Plan jedoch in der Warteschlange. Ich fokussiere mich aktuell auf meine Karriere als Boxer. Auf diesem Level benötigt dies 100 Prozent meiner Konzentration."

Tatsächlich steht ihm seine größte Prüfung bevor. Denn im Kampf gegen Manny Pacquiao, der wie Provodnikov von Freddie Roach betreut wird, dürfte all das, was er bisher erreicht hat, unwichtig sein. Er hat nicht nur die Chance auf den WBO-Titel im Weltergewicht, sondern könnte mit seiner Krönung auch zum wohl größten Spielverderber der Geschichte avancieren. Verliert Pacquiao, so ist ein Fight gegen Floyd Mayweather Jr. vom Tisch. Aber welche Chancen hat schon ein Außenseiter aus gutem Haus, der weder Wille noch Herz hat?

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