Besorgniserregende Zahlen! FC Bayern München steckt im Neuer-Dilemma

Von Justin Kraft
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Manuel Neuer gewinnt dem FC Bayern München anders als früher keine Spiele mehr, hat aber noch immer große Stärken. Doch es stellt sich die Frage: Ist sein Gehalt noch angemessen?

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Innerhalb einer Woche hat sich die Stimmung rund um den FC Bayern München fast komplett gedreht. Statt darüber zu sprechen, wie schön die Münchner Fußball spielen, wird darüber diskutiert, ob sie in Schönheit sterben, weil sie zu viel Risiko gehen.

Der Hauptgrund: In drei Partien gegen Bayer Leverkusen, Aston Villa und Eintracht Frankfurt gelang dem FCB kein Sieg. Zudem gab es fünf Gegentore. Entsprechend stürzten sich viele auf die Defensive der Bayern - womit ausdrücklich die Viererkette und im Speziellen die beiden Innenverteidiger gemeint waren.

Weniger diskutiert wurde über Manuel Neuer. Zwar gab es auf Social Media durchaus vernehmbares negatives Feedback von vielen Bayern-Fans und hier und da auch mal einen kritischeren Artikel, doch noch ist der Gegenwind allenfalls ein laues Lüftchen.

Und das verwundert. Denn Neuer patzte nicht nur gegen Aston Villa schwer, er ließ sich auch in Frankfurt dreimal überwinden, als gäbe es nichts Leichteres. Nun waren die drei SGE-Treffer sicher keine, die man einem durchschnittlichen Torhüter ankreiden würde. Sicher aber jemandem, der bei einem absoluten Topklub zwischen den Pfosten steht und die Geschichte mitbringt, die Neuer nun mal mitbringt.

Dass das Thema noch nicht riesig ist, liegt schlicht und ergreifend an seinem Standing. Neuer hat das Torwartspiel vor vielen Jahren revolutioniert, er hat zahlreiche Titel gewonnen und war über eine Dekade hinweg der mit großem Abstand beste Torhüter der Welt. Doch das ist er eben längst nicht mehr.

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Manuel Neuer hat an Aura verloren

Über viele Jahre hinweg gab es immer wieder Interviews mit Stürmern, die offen zugaben, vor Neuer ins Grübeln gekommen zu sein. "Er bleibt stehen - 97 Prozent der Torhüter gehen runter und ich treffe. Aber nicht dieser Typ", sagte ein angefressener Erling Haaland im Herbst 2020, als er im Eins-gegen-eins die große Chance verpasste, den BVB in München beim Stand von 2:2 in Führung zu bringen. Bayern gewann mit 3:2.

Diese Aura, dieses Verzweifeln von Weltklassestürmern - das zeichnete Neuer einst aus. Heute müssen Omar Marmoush und Hugo Ekitiké bei all ihrer Klasse nicht mal sonderlich platziert schießen, um ihn zu überwinden.

Eine große Überraschung ist das nicht. Dass Neuer auf der Linie weniger athletisch, weniger spritzig und eben entsprechend weniger herausragend ist als in der Vergangenheit, deutete sich in den letzten Jahren an. Patzer häuften sich, die scheinbar "Unhaltbaren" hielt er immer seltener.

Mit 38 Jahren ein normaler Prozess. Auch wenn Torhüter in der Regel deutlich länger auf hohem Niveau agieren können: Ein Gegenmittel zum Alterungsprozess haben auch Oliver Kahn oder Gianluigi Buffon nicht gefunden.

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Manuel Neuer: Immer noch positiven Einfluss auf den FC Bayern

Um die Kritik entsprechend einzuordnen: Neuer ist auch mit 38 bei weitem kein schlechter Torhüter. In einigen Bereichen zählt er nach wie vor zu den Besten der Welt. So lief er gegen Frankfurt gleich mehrfach Kontersituationen ab, die sonst sehr wahrscheinlich zu weiteren Gegentoren geführt hätten.

Hier muss sich Neuer weniger auf seine athletischen Qualitäten verlassen als auf sein Spielverständnis und seine Fähigkeit, die Situation richtig zu lesen. Der Patzer gegen Aston Villa zeigt, dass er auch hier nicht mehr fehlerfrei ist. Ihm aus dieser Szene einen Strick zu ziehen, wäre dennoch nicht fair.

In den überwiegenden Situationen ist Neuer hier immer noch ein wichtiger Libero für den FC Bayern. Das betrifft auch den Spielaufbau. Seine Qualität mit dem Ball am Fuß wird von Vincent Kompany noch stärker eingebunden - und das macht sich bezahlt. Der Aufbau der Bayern ist auch gegen höheres Pressing deutlich stabiler geworden. Neben der spielstarken Doppelsechs mit Aleksandar Pavlovic und Joshua Kimmich liegt das auch an Neuer.

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FC Bayern: Manuel Neuer auf der Linie nicht mehr Weltklasse

Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Neuer auf der Linie mittlerweile eher Richtung Durchschnitt tendiert als in Richtung Weltklasse. Zahlen bestätigen diesen Trend.

So hat der Ex-Nationalspieler die schlechteste Quote an parierten Schüssen unter allen regelmäßig eingesetzten Torhütern der Bundesliga. Nur fünf der bisherigen zwölf Schüsse auf sein Tor wehrte er ab. Eine Quote, die natürlich Einordnung bedarf.

Erstens haben die Bayern bisher sehr wenige Abschlüsse zugelassen. Und zweitens erzählt diese Statistik nicht, wie groß die Qualität der Abschlüsse war. Aber auch dafür gibt es mittlerweile Metriken, die hilfreich sein können.

Expected Goals haben es in den vergangenen Jahren in die breite Medienlandschaft geschafft. Die Kurzerklärung: Es wird anhand von sehr vielen Vergleichsdaten bestimmt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Abschluss ins Tor geht. Dafür gibt es einen Wert zwischen 0 und 1, wobei 1 die höchstmögliche Wahrscheinlichkeit darstellt. Dabei werden je nach Modell Metriken wie Position, Gegnerdruck, Körperteil, Torhüterposition und vieles mehr berücksichtigt.

So weit, so klar. Nun gibt es aber eine Statistik, die heißt "Post-Shot Expected Goals" - also die Expected Goals, die sich NACH einem Schuss berechnen. Diese Statistik bewertet, wie gut der Abschluss tatsächlich war. Ein simples Beispiel: Robert Andrichs Direktabnahme gegen den FC Bayern hatte laut FBref mit Opta-Daten eine Torwahrscheinlichkeit von 0,02. Distanz, Direktabnahme, viele Spieler im Weg - unwahrscheinlich, dass er das Tor macht.

Aber: So wie er den Ball getroffen hat, hat sich der xG-Wert auf 0,27 erhöht. Es wird also nicht mehr bewertet, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass er ihn gut trifft und der Ball reingeht, sondern nur, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Ball, so wie er ihn trifft, ins Tor geht.

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Manuel Neuer: Zahlen belegen Schwächen im Torwartspiel

Was hat das nun mit Manuel Neuer zu tun? Post-Shot xG eignen sich gut dazu, zu analysieren, ob ein Torhüter überdurchschnittlich viele Chancen vereitelt und wie gut die Abschlüsse waren, die er auf sein Tor bekam.

Die Abschlüsse, die Neuer in der Bundesliga bisher auf sein Tor bekam, ergeben einen Post-Shot xG von 4,2. Daraus kassierte er sieben Treffer. Eine Differenz von -2,8, die den Schluss zulässt, dass Neuer mehr Gegentore auf dem Konto hat, als erwartbar gewesen wären. Es ist die drittschlechteste Differenz in der Liga - Nediljko Labrovic (FC Augsburg, -4,1) und Timon Winer (Holstein Kiel, ebenfalls -4,1) liegen noch hinter ihm. Auf dem ersten Rang steht Peter Gulacsi von RB Leipzig mit +3,2.

Auch bei der Differenz pro 90 Minuten steht Neuer auf dem drittletzten Rang (-0,56). Die Werte in Frankfurt sind besonders interessant: Während Marmoush mit 0,73 Post-Shot xG beim ersten Tor und 0,69 bei seinem zweiten Treffer recht hohe Werte einfuhr, kommt Ekitiké nur auf 0,22. Das zwischenzeitliche 2:1 wäre rein statistisch also durchaus haltbar gewesen. Neuer zeichnete sich einst aber auch dadurch aus, dass er hin und wieder Abschlüsse wie die von Marmoush parierte.

Auch im Vergleich mit sich selbst ist Neuer aktuell schwach unterwegs. In der Triple-Saison 2019/20 kam er in 33 Bundesliga-Einsätzen bei den Post-Shot xG auf eine Differenz von +4,6 - also +0,14 pro 90 Minuten. In der vergangenen Saison waren es -3,9 und -0,17 pro 90 Minuten.

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FC Bayern: Die Zukunftsentscheidung wird bei Neuer nicht leicht

Gut möglich, dass sich der Wert in den kommenden Wochen wieder mehr in Richtung 0 stabilisiert. Schließlich spielten die Bayern bereits gegen drei der vier besten Offensivreihen der Liga (nach ihnen) - mit dem VfB Stuttgart kommt das vierte Team demnächst nach München. Dass sie weiterhin so wenig Schüsse zulassen und dabei so viele Gegentore kassieren, ist statistisch jedoch sehr unwahrscheinlich.

Doch wenn man allein auf die letzten 365 Tage schaut, muss man festhalten, dass Neuer nicht nur gefühlt, sondern auch faktisch auf der Linie schwächer geworden ist. Die Durchschnittliche Post-Shot-xG-Differenz liegt in diesem Zeitraum bei -0,12. Im Vergleich mit allen Torhütern der Top-5-Ligen, der Champions League und der Europa League ist er damit lediglich im 19. Perzentil. Oder anders formuliert: 79 Prozent der Torhüter sind in dieser Statistik besser.

Auch hier gilt, dass die Statistik besorgniserregender klingt, als sie ist. Wer viele Schüsse kassiert, hat eine bessere Stichprobe als jemand, der wenige Schüsse kassiert und viele davon wiederum aus schlechteren Positionen. Andere Top-Keeper wie Marc-André ter Stegen, Ederson, Thibaut Courtois oder Alisson schaffen es deshalb häufig auch nicht in das obere Drittel. Sie alle stehen dennoch deutlich besser da als Neuer.

Unter dem Strich bleibt also ein ambivalentes Fazit. Neuer kann den Bayern im Spielaufbau oder bei seinen Ausflügen zur Kontervermeidung weiterhin helfen. Gleichzeitig ist es unwahrscheinlicher geworden, dass er ihnen mit Paraden Spiele gewinnt. Eher ist es zuletzt mal vorgekommen, dass er ihnen Punkte gekostet hat.

Vor diesem Hintergrund muss der FC Bayern für den kommenden Sommer eine schwierige Entscheidung treffen: Wiegen Standing, Erfahrung und die noch vorhandenen Qualitäten mehr als die klassischen Torhüter-Attribute? Und ist es ihnen weiterhin ein Gehalt wert, das ihn zu den Topverdienern zählt? Eine rein sportliche Analyse käme wohl zu dem Fazit, dass eine Veränderung notwendig ist. Neuer lebt aktuell zu sehr von seinem Mythos.

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