Rafal Gikiewicz vom FC Augsburg im Interview: "Dann wäre ich der polnische Manuel Neuer!"

gikiewicz-lewandowski-1200
© imago images

Seit acht Jahren spielt Rafal Gikiewicz in Deutschland, 2020 schloss sich der Torwart dem FC Augsburg an. Im ausführlichen Interview mit SPOX und GOAL zeichnet Gikiewicz seinen erstaunlichen Karriereweg nach - von den Anfängen in Polen über seinen kuriosen Wechsel nach Braunschweig bis zum plötzlichen Aus beim 1. FC Union Berlin.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Der 35-jährige Gikiewicz packt in diesem Gespräch zahlreiche Anekdoten und unbekannte Geschichten aus: Wie er einst dank seiner "Schauspielkunst" nach Deutschland kam, worüber er heute noch mit Robert Lewandowski lacht und weshalb er einen Klub wegen eines betrunkenen Mitspielers verließ.

Der Keeper spricht auch über eine lebensbedrohliche Situation bei seinem Zwillingsbruder, eine Unterredung mit Christian Streich wegen seines Sohnes und das "respektlose" Angebot von Union Berlin.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar sprach mit FCA-Keeper Rafal Gikiewicz.
© spox

Herr Gikiewicz, Sie sind im Nordosten Polens geboren und stammen aus einer sportbegeisterten Familie. Wie sind Sie als Kind aufgewachsen?

Rafal Gikiewicz: Damals war die Zeit schwer, nicht nur für meine Familie. Meine Eltern haben dennoch versucht, uns alles so gut es ging zu ermöglichen. Mein Vater arbeitete als Taxi- und Busfahrer. Nebenbei war er Stadionsprecher bei Stomil Olsztyn, dem Verein unserer Heimatstadt. Schon als mein Zwillingsbruder und ich noch im Kinderwagen lagen, waren wir bei so gut wie allen Spielen dabei. In unserem Blut war die Fußball-DNA sehr früh verankert. Nach der Schule haben wir die Schulranzen in die Ecke gepfeffert und sind kicken gegangen, bis es dunkel wurde. Wir haben die Hausaufgaben immer erst am nächsten Tag in der Schule gemacht.

Der FC Augsburg ist Ihr insgesamt 13. Verein. Allein in der Jugend haben Sie bis zu Ihrem 16. Lebensjahr für drei Klubs gespielt. Woran lag das?

Gikiewicz: Wir wollten nie bei Stomil Olsztyn spielen, da sonst die Leute gesagt hätten, dass wir nur zum Einsatz kommen, weil unser Papa dort arbeitet. Daher haben wir uns gesagt: Wir beweisen woanders, dass wir spielen, weil wir gut sind. Wir sind dann immer nur für ein Jahr zu den Vereinen gegangen und wussten vorab, dass wir auch spielen werden. Das waren zwar alles Klubs aus Olsztyn, doch deren Plätze lagen teils 70 Kilometer außerhalb der Stadt.

Dann war es ja praktisch, dass der Papa Taxifahrer war.

Gikiewicz: Genau. Er stand jedes Mal mit dem Taxi parat vor der Schule, hatte unser Mittagessen in einer Tupperschüssel dabei und fuhr uns zum Training.

Sie standen bis zum Alter von 14 Jahren gar nicht im Kasten, sondern spielten als Rechtsaußen. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass Sie mal ein richtig guter Torwart werden würden?

Gikiewicz: Nie im Leben. Es stellte sich aber schnell heraus, dass ich als Torhüter besser als im Feld bin.

Sie landeten zwischen den Pfosten, weil sich der Torwart Ihres damaligen Teams Tempo 25 Olsztyn vor einem Hallenturnier krank meldete und Ihr Trainer fragte, wer stattdessen ins Tor gehen möchte.

Gikiewicz: Ich habe mich freiwillig gemeldet. Der Gikiewicz konnte natürlich wieder nicht stillhalten. (lacht) Da stand ich dann zum ersten Mal in meinem Leben im Tor - und wurde am Ende des Wochenendes als bester Torhüter des Turniers ausgezeichnet. Anschließend wurde unsere Nummer eins die neue Nummer zwei. Seitdem habe ich den Kasten nicht mehr verlassen.

Nach den drei Klubs in der Jugend gingen Sie 2004 zu DKS Dobre Miasto. War das Ihr erster Klub im Seniorenbereich?

Gikiewicz: Ja. Nachdem wir mit Tempo 25 Olsztyn die U18-Meisterschaft gewonnen hatten, bekam ich eine Einladung zum Probetraining bei der U18-Nationalelf und das Angebot von DKS für den Seniorenbereich, obwohl ich noch zwei Jahre Jugendfußball hätte spielen können. Dort war auch mein Onkel Präsident. Diese Erfahrung wollte ich unbedingt machen, auch mein Bruder wechselte dorthin. Wir bekamen am Monatsende jeweils 100 Euro in einem Briefumschlag und hatten einen Deal mit unseren Eltern: Wir machen ihnen mit dem Geld den Kühlschrank voll, so dass er nie mehr leer sein wird. Einfach aus Dankbarkeit, weil sie uns jeden Tag nach der Schule so viele Kilometer zum Training fahren mussten.

Mit Jagiellonia Bialystok gewann Rafal Gikiewicz (2.v.r.) 2010 den polnischen Pokal.
© imago images

Nach einem Jahr bei DKS gingen Sie wieder und spielten bis 2008 noch für Sokol Ostroda, Drweca Nowe Miasto Lubawskie und Wigry Suwalki. War es aufgrund der vielen Vereinswechsel schwer, sich als heranwachsendes Talent im Seniorenbereich zu etablieren?

Gikiewicz: Die vielen Klubs kamen deshalb zustande, weil der Karriereplan war, jedes Jahr eine Liga nach oben zu klettern. Daher haben wir weiterhin immer nur Einjahresverträge unterschrieben. Ab der Zeit in Nowe Miasto Lubawskie haben wir nicht mehr zu Hause gewohnt, da waren wir fast 17. Bei Wigry Suwalki spielte ich bereits in der 2. Liga. Dort wurde ich zum besten Torwart der Liga ausgezeichnet und bekam anschließend ein Angebot von Erstligist Jagiellonia Bialystok.

Stimmt es eigentlich, dass Sie einmal in der dritten polnischen Liga gegen Robert Lewandowski gespielt haben?

Gikiewicz: Ja. Mein erster Patzer in der 3. Liga im Trikot von Nowe Miasto Lubawskie war gegen Robert Lewandowski. Nachdem er bei Legia Warschau aussortiert wurde, spielte er für Znicz Pruszkow. Ich hatte im Spielaufbau den Ball, er griff mich an, ich wollte ihn ausspielen, blieb aber hängen und er traf ins leere Tor. Ich sammle bis heute alle Zeitungsartikel über mich, selbst den von diesem Spiel habe ich noch. Da sind Robert und ich auf einem Bild zu sehen. Jedes Mal, wenn wir uns heute begegnen, lachen wir darüber.

Als sie zusammen bei Wigry Suwalki spielten, wäre Ihr Zwillingsbruder Lukasz, der Stürmer und heute auch Profi ist, nach einem Blinddarmdurchbruch beinahe gestorben. Wie erlebten Sie das?

Gikiewicz: Ich wohnte mit ihm und einem Mitspieler in einem Haus. Eines Nachts, es war drei oder vier Uhr, vibrierte plötzlich mein Handy. Ich dachte mir: Warum ruft mich mein Bruder vom Zimmer nebenan mitten in der Nacht an? Ich nahm ab, er konnte kaum ein Wort herausbringen. Ich ging sofort zu ihm rüber. Er lag bewegungslos da und hat brutal geschwitzt. Ich rief dann den Notarzt an, doch das polnische Gesundheitssystem ist bis heute nicht das beste. Der Arzt setzte ihm lediglich eine Schmerzspritze und meinte, das sei alles nicht so schlimm, es ginge ihm morgen wieder besser.

Das war dann offensichtlich nicht der Fall.

Gikiewicz: Er hatte drei, vier Tage lang extreme Bauchschmerzen und konnte auch nicht aufs Klo gehen. Daher rief ich meinen Papa an und sagte, dass wir Lukasz zu unserem Hausarzt nach Olsztyn bringen müssen. Dort hat der Arzt nur einmal auf seinen Bauch gedrückt und gemeint: Er muss sofort operiert werden. Bei der OP stellte man dann fest, dass sein Gewebe zu 75 Prozent voller Bakterien war und eine lebensbedrohliche Sepsis auslöste. Er hatte danach drei Monate einen künstlichen Darmausgang, durfte das Krankenhausbett nicht verlassen und hat 60 Kilogramm verloren. In dieser Zeit bin ich jeden Tag die 200 Kilometer von Suwalki nach Olsztyn gefahren, um bei ihm zu sein. Ich habe zu Hause übernachtet, stand um sechs Uhr auf und fuhr wieder nach Suwalki zum Training. Lukasz musste anschließend wieder Laufen lernen. Der Arzt hat gesagt, er wird nie wieder Fußball spielen können.

Welche sportliche Perspektive hatten Sie nach Ihrem Wechsel zum Erstligisten aus Bialystok?

Gikiewicz: Das war ein ziemlich verrückter Sommer. Ich habe sechs Wochen lang Probetrainings absolviert, bis ich schließlich in Bialystok unterschrieb. Zuerst war ich zwei Wochen lang bei Gornik Zabrze. Sie wollten mich dann haben, aber ich habe es noch bei Legia Warschau probiert - obwohl ich körperlich schon ziemlich kaputt war und Muskelkater ohne Ende hatte. Dort hätte ich die Nummer drei werden können, doch das wollte ich nicht. Also fuhr ich auch noch nach Bialystok. Dort gab es auch etwas mehr Geld als in Zabrze und es lag nur 200 und nicht 500 Kilometer von meiner Heimat entfernt. Der Verein hatte auch den Ruf, jungen Spielern frühzeitig eine Chance zu geben.

2012 wurde Rafal Gikiewicz mit Slask Wroclaw polnischer Meister.
© imago images

In Bialystok durften Sie meist im Pokal ran, den man in Ihrer zweiten Saison auch gewinnen konnte. Es war der erste Titelgewinn in Jagiellonias Vereinsgeschichte. Wie erinnern Sie sich?

Gikiewicz: Grzegorz Szamotulski war als sehr erfahrener Keeper die Nummer eins. In meiner ersten Saison hatte er aber Streit mit dem Trainer. Daher durfte ich im Pokal auf einmal ran. Ich hielt einen Elfmeter und wir kamen eine Runde weiter. Anschließend war ich der Pokal-Torhüter. Damals bekam der beste Spieler des Wettbewerbs einen Mercedes geschenkt. In der zweiten Saison hatte ich bis zum Finale schon drei Elfmeter gehalten und mir echt gute Chancen ausgerechnet. Am Ende bekam aber ein Feldspieler das Auto. Davon habe ich heute noch ein Trauma. (lacht) Ich habe in Bialystok auch meine Frau kennengelernt. In der Winterpause sind wir dort immer zu Besuch. Wenn ich durch die Innenstadt laufe, applaudieren mir die Menschen noch heute.

Warum sind Sie denn nach dieser Saison per Leihe zu Ihrem Jugendklub OKS Stomil Olsztyn zurück in die 3. Liga gewechselt?

Gikiewicz: Durch den Pokalsieg spielten wir in der dritten Qualifikationsrunde zur Europa League gegen Aris Saloniki. Ich saß auf der Bank, neben mir Abwehrspieler Andrius Skerla. Unser Torwart Grzegorz Sandomierski hat dann vor dem 0:1 gepatzt. Unmittelbar danach hat uns eine TV-Kamera eingefangen und gezeigt, wie Andrius und ich lachen. Ich weiß wirklich nicht mehr, worum es ging, aber wir haben natürlich nicht wegen des Fehlers gelacht. Trotzdem kam nach dem Spiel unser Trainer Michal Probierz zu mir und sagte, dass ich ab sofort bei der U23 bin. Dort durfte ich aber nicht mittrainieren, sondern musste nur Runden laufen. Der Verein wollte auch meinen Vertrag auflösen.

Haben Sie sich dagegen gewehrt?

Gikiewicz: Klar, aber mit Michal Probierz kannst du nicht reden - keine Chance. (lacht) Einige Tage später bekam ich auf einmal einen Anruf von Zbigniew Kaczmarek. Er war mein Trainer bei Wigry Suwalki und trainierte nun Olsztyn. Er fragte, ob ich nicht kommen möchte.

Sie sagten zu. War das aber nicht ein enormer Rückschritt - sportlich wie finanziell?

Gikiewicz: Doch. Bei Jagiellonia habe ich 20.000 Zloty im Monat verdient, in Olsztyn waren es 1000 - das sind heute knapp über 200 Euro. Ich musste auch den Koffer mit unseren Trikots mit nach Hause nehmen, die hat dann meine Mutter für uns gewaschen. Zu der Zeit wurde ich das erste Mal Vater. Wir wohnten wieder alle zusammen bei meinen Eltern. Das war schon keine leichte Phase. Ich bin aber lieber diese zwei Schritte zurückgegangen als in Bialystok nur meine Runden zu drehen.

2011 waren Sie dann zurück in der Ekstraklasa und schlossen sich Slask Wroclaw an. Wie ist man dort auf Sie aufmerksam geworden?

Gikiewicz: Mit Olsztyn hatten wir ein Pokalspiel gegen Ruch Chorzow, ein Erstligist. Auf der Tribüne saß der Chefscout von Slask Wroclaw. Kurz darauf rief mich deren Sportdirektor an und sagte: 'Junge, warum spielst du 3. Liga? Komm' zu uns!' Ein halbes Jahr später habe ich dort unterschrieben.

Gleich in Ihrer ersten Saison gewann Slask zum ersten Mal seit 35 Jahren wieder den Meistertitel. Sie kamen auf sechs Spiele in der Liga - alle wurden gewonnen.

Gikiewicz: Und ich bekam trotz dieser nur sechs Spiele erstmals eine Einladung von Franciszek Smuda zur Nationalmannschaft. Damals haben alle in Polen gesagt, Slask hätte die beste Nummer eins und zwei der Erstligageschichte.

Rafal Gikiewicz zusammen mit Sportchef Marc Arnold bei seiner Vorstellung in Braunschweig.
© imago images

Was glauben Sie denn, wo Sie heute wären, wenn Sie damals eine Ausbildung genossen hätten, wie sie heute in Deutschland Standard ist?

Gikiewicz: Dann wäre ich der polnische Manuel Neuer! Ich hatte bis 21 keinen Torwarttrainer und habe ganz normal wie ein Feldspieler am Training teilgenommen. Erst als es auf Tore ging, stand ich im Kasten.

Sie blieben bei Slask drei Jahre lang, in denen Sie auf 44 Pflichtspiele kamen, darunter auch sieben Partien in der Europa League. Ihr Ende dort war jedoch unrühmlich, was auch mit Ihrem Zwillingsbruder zu tun hatte, der ebenfalls in Wroclaw spielte. Wie lief das genau ab?

Gikiewicz: Unser Mitspieler Patrik Mraz kam betrunken zum Training und meinte, es wäre spaßig, wenn er übertrieben durch die Gegend grätscht. Mein Bruder fand das zu Recht nicht lustig, denn da bestand durchaus Verletzungsgefahr. Daher hat er zum Trainer gesagt: 'Bist du blind und siehst das alles nicht?' Als das geschah, stand ich nicht mit auf dem Platz, weil ich Regenerationstraining hatte. Ich sah dann aber, wie er anschließend in der Kabine von den anderen angegangen wurde. Als ihn unser Kapitän Sebastian Mila zur Rede stellen wollte, ging ich dazwischen.

Auch Ihr Bruder verließ nach dem Vorfall den Verein. Warum artete das derart aus?

Gikiewicz: Damals war in Polens Fußball der Alkoholkonsum sehr stark verbreitet. Gerade die ältere Spielergeneration hat wirklich viel getrunken. Die jüngeren Spieler hatten überhaupt nichts zu melden. Mein Bruder galt daher als Verräter. Mittlerweile ist das alles längst vergessen. Ich habe bis heute einen guten Kontakt zu Sebastian Mila, wir sind beide Experten im polnischen Fernsehen. Er weiß auch, dass mein Bruder damals Recht hatte.

Wie erging es Ihnen in dieser Zeit?

Gikiewicz: Ich wurde in die U23 abgeschoben und durfte wieder nur Runden drehen. Aus dem völligen Nichts erhielt ich auf einmal eine Email von einem Berater, von dem ich noch nie gehört hatte: "Hallo Herr Gikiewicz, wir kennen uns zwar nicht persönlich, aber hätten Sie Lust auf ein Probetraining in Deutschland bei Eintracht Braunschweig?" Das war ein deutscher Erstligist! Ich dachte, der will mich verarschen.

Hatten Sie zuvor schon einmal die Möglichkeit, ins Ausland zu wechseln?

Gikiewicz: Nein. Ich wäre auch fast zu Wisla Krakau gegangen. Präsident und Trainer waren schon bei uns zu Hause und haben mir eine riesige Weinflasche aus der Vereinskollektion mitgebracht. Die steht bei mir heute noch ungeöffnet in der Bar. (lacht) Ich wollte das unbedingt machen, doch dann flatterte plötzlich diese Email herein.

Ist es richtig, dass Sie bei Slask Wroclaw erzählt haben, Ihre Frau sei depressiv, um Ihren Wechselwunsch durchzudrücken?

Gikiewicz: Das war erst später. Hätte ich den Leuten bei Slask gesagt, ich fahre zum Probetraining eines deutschen Erstligisten, hätten sie fünf Millionen Euro Ablöse für mich verlangt. Deshalb habe ich gesagt, dass ich Bauchschmerzen habe und drei Tage zu Hause bleiben muss. Und dann sind wir mit dem Auto nach Braunschweig gefahren. (lacht)

Rafal Gikiewicz im Tor seiner ersten Auslandsstation bei Eintracht Braunschweig.
© getty

Wie zuversichtlich waren Sie denn nach der langen Zeit ohne Spielpraxis, dass Sie beim Probetraining auftrumpfen werden?

Gikiewicz: Schon nach dem ersten Tag hat der damalige Torwart-Trainer Alexander Kunze gesagt, dass sie mich haben, aber keine Ablöse zahlen möchten. An Tag drei wurde mir auch ein Vertrag vorgelegt. Ich musste irgendetwas tun, um aus meinem noch zwei Jahre laufenden Vertrag bei Slask herauszukommen.

Und dann haben Sie die Karte mit der depressiven Ehefrau gespielt?

Gikiewicz: Genau. Ich traf mich mit dem Präsidenten von Slask und habe einen auf Schauspieler gemacht: 'Unser Kind ist erst ein Jahr alt, meine Frau ist aber schon depressiv, wir haben gerade eine sehr schwierige Zeit und wenn ich hierbleiben muss, verliere ich wohl meine Frau und das Kind.' Ich habe sogar ein paar Tränen verdrückt.

Mussten Sie Zugeständnisse machen?

Gikiewicz: Ja. Der Präsident nahm einen Zettel, kritzelte etwas darauf und schob ihn mir über den Tisch. Darauf stand, dass ich auf alle noch ausstehenden Punktprämien verzichten müsse, um den Vertrag aufzulösen. Das waren noch stolze 100.000 Zloty, knapp über 21.000 Euro. In Polen ist es Alltag, dass du dein Geld verspätet bekommst. Normalerweise bespreche ich alles mit meiner Frau, aber hier hatte ich nur eine Minute zu überlegen - und habe unterschrieben.

Haben Sie in Deutschland dann deutlich mehr Geld bekommen als in Polen?

Gikiewicz: Ich musste dort erst einmal lernen, was es heißt, wenn du den Großteil deines Gehalts an die Steuer abzugeben hast. (lacht) Ich habe Lukasz Piszczek in Dortmund angerufen und mir das ganze System dahinter erklären lassen, weil ich absolut keine Ahnung davon hatte. Am Ende blieb in Braunschweig tatsächlich weniger übrig als in Wroclaw. Das war mir aber egal, mir ging es vor allem um diese einmalige Chance. Zurück nach Polen hätte ich jederzeit gehen können.

Braunschweig war schließlich aus der Bundesliga abgestiegen, mit Daniel Davari verließ zudem der langjährige Torwart den Verein - und Sie wurden aus dem Stand die Nummer eins. War das zum Zeitpunkt Ihrer Zusage klar?

Gikiewicz: Nein. Es gab ein offenes Duell zwischen Marjan Petkovic und mir. Das habe ich für mich entscheiden können, doch ich weiß noch, dass ich das gar nicht kapiert habe.

Inwiefern?

Gikiewicz: Ich habe kaum ein Wort Deutsch verstanden. Am Mittag unseres ersten Ligaspiels in Düsseldorf bildete Trainer Torsten Lieberknecht bei der Aktivierung einen Kreis und sprach zur Mannschaft. Plötzlich klatschten alle. Danach klopften mir ein paar Spieler auf die Schulter und gratulierten. Was ist denn los, fragte ich. Sie sagten, der Trainer habe gerade verkündet, dass ich die Nummer eins sein werde. Anschließend hatte ich dreimal die Woche Deutschunterricht. (lacht)

Einer von nur vier Einsätzen für den SC Freiburg: Rafal Gikiewicz im Spiel beim BVB.
© getty

Sie haben in Braunschweig in zwei Jahren 66 von 68 Spielen gemacht und sind mit dem Klub Sechster sowie Achter in der 2. Liga geworden. Sie waren dort sehr beliebt und unumstritten. Wieso dann der Wechsel zum SC Freiburg, wie kam der zustande?

Gikiewicz: Eine Woche vor dem Start in meine dritte Saison in Braunschweig bekam ich mehrere Anrufe einer unbekannten Nummer. Ich ging zunächst nicht ran, erhielt dann aber eine SMS: 'Hallo, ich bin Andreas Kronenberg, Torwart-Trainer beim SC Freiburg. Bitte rufe mich zurück!' Das tat ich und da sagte er mir, dass sie mich holen wollen, Braunschweig mich aber nicht gehen lassen will.

Mit einem Augenzwinkern: Sind Sie dann wieder zum Schauspieler geworden?

Gikiewicz: Ich habe gesagt: Kein Problem, damit kenne ich mich aus! (lacht) Im Ernst: Ich habe mich in Braunschweig tadellos verhalten und Leistung gebracht, es wurden sogar Schuhe mit meinem Gesicht darauf produziert. Ich war aber 28 Jahre alt und bekam ein Angebot eines etablierten Bundesligisten. Das haben sie anerkannt und mich gehen lassen.

Wussten Sie vorab, dass Sie beim SC die Nummer zwei hinter Alexander Schwolow sein werden?

Gikiewicz: Ja, das haben mir Christian Streich, Jochen Saier und Andreas Kronenberg schon bei unserem ersten Treffen im Hilton-Hotel in Frankfurt klar gesagt. Ich hatte aber keine Angst vor dem Duell und mir gesagt: Solang ich eine faire Chance bekomme, gewinne ich jedes Duell.

Das hat jedoch nicht geklappt: Sie kamen in Ihren zwei Jahren im Breisgau nur auf vier Pflichtspiele.

Gikiewicz: Mit Blick auf die Anzahl der Spiele nicht. Allerdings habe ich von Andreas Kronenberg so viel als Torwart gelernt, auch Christian Streich gab mir zahlreiche hilfreiche Tipps. In Freiburg kam unser zweiter Sohn zur Welt. Der Verein, die Fans, die Stadt - wenn ich meine sportliche Situation ausklammere, waren die zwei Jahre beim SC die beste Zeit meines Lebens.

Dennoch: Zwei Jahre ohne Spielpraxis - hat Sie das nach der Zeit in Braunschweig nicht total genervt?

Gikiewicz: Nein, auch wenn ich manchmal den Eindruck hatte, dass vor mir wohl sogar unsere Putzfrau zum Einsatz kommen würde. (lacht) Das Lieblingswort von Christian Streich war: Frustrationstoleranz. Er hat mir beigebracht, was das im Alltag bedeutet. Ich habe immer Vollgas gegeben, hatte guten Kontakt zu meinen Mitspielern und wollte keinen Stunk machen. Darum haben wir mit ein paar Spielern wie Manuel Gulde oder Aleksandar Ignjovski auch schnell die sogenannte TNT-Gruppe gegründet: trainieren, nicht spielen, trainieren. Das entsprechende Lied von AC/DC haben wir in der Kabine oft laut aufgedreht.

Hätten Sie den SC vorzeitig verlassen können?

Gikiewicz: Nach der ersten Saison bekam ich ein Angebot für eine Leihe zum 1. FC Kaiserslautern. Das ist aber an Freiburgs finanziellen Forderungen gescheitert. Der langfristige Plan war, dass ich beim SC die Nummer eins werde, weil man davon ausgehen musste, dass Alex Schwolow den Verein verlässt. Mein Grundgehalt ist auch stets gestiegen. Alex ist letztlich aber nicht gegangen. Ich war sportlich zwar unzufrieden, doch wenn ich am Geldautomaten stand, war ich glücklich. (lacht)

Stimmt es, dass Sie einmal ein Gespräch mit Christian Streich hatten und der Grund dafür Ihr Sohn Piotr war?

Gikiewicz: Ja. Mir war gar nicht klar, dass Christian Streich einen Sohn im selben Alter hat. Die beiden gingen in den gleichen Kindergarten. Mein Sohn hat dort erzählt, dass sein Papa ja viel besser als dieser Schwolow ist. Das landete dann zu Hause bei Streichs. Nach einem Training nahm er mich zur Seite. Wir haben sehr darüber gelacht, aber er riet mir, lieber doch einmal mit meinem Sohn zu sprechen.

2019 feierte Rafal Gikiewicz mit Union Berlin den erstmaligen Aufstieg in die Bundesliga.
© getty

2018 schlossen Sie sich Union Berlin an, wo Sie wie in Braunschweig direkt die Nummer eins wurden und alle 38 Pflichtspiele der Aufstiegssaison mitgemacht haben. Wie aber kam es, dass Union einen Keeper als Nummer eins haben wollte, der zuvor vier Spiele in zwei Jahren absolviert hat?

Gikiewicz: Unions Torwart-Trainer Michael Gspurning sagte, er habe meine beiden Bundesligaspiele für Freiburg gegen Leipzig und Dortmund gesehen und dann Marc Torrejon gefragt, der mein Mitspieler beim SC war und bei Union spielte, wie denn der Gikiewicz so sei. Marc lobte mich über den grünen Klee und sagte, ich sei mental so stark, dass ich die drei Berliner Torhüter problemlos hinter mir lassen werde. Im Urlaub auf Rhodos habe ich insgesamt zehn Stunden mit Michael telefoniert - danach wollte er mich haben.

Wie sah's in der 2. Liga beim Gang zum Geldautomaten aus?

Gikiewicz: Union hat mir ein Skandal-Angebot gemacht! (lacht) Beim Gespräch mit Sport-Geschäftsführer Oliver Ruhnert habe ich trotzdem nach einer Minute gesagt: Gib' mir einen Stift, ich unterschreibe sofort. Ich wollte einfach wieder regelmäßig spielen.

Stand es fest, dass Sie das tun werden?

Gikiewicz: Nein. Als ich mich mit Oliver traf, wusste er wohl, dass Urs Fischer neuer Trainer wird, hat es mir aber nicht gesagt. Im Urlaub rief mich dann eine Schweizer Nummer an. Diesmal ging ich sofort ran. Urs Fischer stellte sich vor und sagte: Kannst du morgen nach Berlin kommen? Wir machen eine Pressekonferenz und wollen dich vorstellen, du wirst die neue Nummer eins!

Auf der PK wurden Sie ausgelacht!

Gikiewicz: Stimmt. In der Saison zuvor hatte Union nur vier Mal zu Null gespielt. Als mir dann die erste Frage nach meinen Zielen gestellt wurde, sagte ich: Ich will aufsteigen und 15 Mal zu Null spielen. Plötzlich hat der ganze Raum gelacht. Und was war am Ende der Saison? Wir haben inklusive der Relegation 15 Mal zu Null gespielt, sind aufgestiegen und ich habe sogar ein Tor geschossen!

Erst der Aufstieg, dann der souveräne Klassenerhalt - Sie haben bei Union die zwei wohl emotionalsten Jahre der jüngeren Vereinsgeschichte miterlebt und wollten den Verein eigentlich nicht verlassen. Was hätte es benötigt, um zu bleiben?

Gikiewicz: Ich empfand es als respektlos, dass man mir nur einen Einjahresvertrag angeboten hat. Wir waren damals im Winter-Trainingslager in Spanien. Oliver legte mir den Vertrag vor, reichte mir einen Stift und sagte, dass ich den gerne sofort unterschreiben könne. Ich sagte: Nein, das werde ich nicht machen. Ob ich mir sicher sei, fragte er. Ja, das bin ich, habe ich geantwortet. Nach dem Abendessen kam dann der Trainer zu mir und meinte: 'Du bist, wie du bist. Es ist egal, was passieren wird, wenn du weiter mit vollem Einsatz trainierst, spielst du bis zum letzten Spieltag. Schade, dass du gehst, ich wünsche dir alles Gute.' So ist eben der Fußball.

Nachdem Ihr Ende bei Union feststand, sagten Sie in einem Interview im Februar 2020: "Ich werde im Juni den Vertrag meines Lebens unterschreiben." Ist es so gekommen?

Gikiewicz: Finanziell nicht, dafür hätte ich ein Angebot aus der Türkei annehmen müssen. Persönlich und familiär war der Wechsel nach Augsburg aber genau richtig. Ich erinnere mich noch, dass mir Stefan Reuter nach unserem allerersten Gespräch gar nicht geglaubt hat, dass ich Union wirklich verlassen werde. Ich bin mir aber sicher, dass der FCA als Verein, der seit zwölf Jahren in der Bundesliga spielt, stabiler als Union Berlin ist - auch wenn meine bisherigen zweieinhalb Jahre nicht so erfolgreich waren, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich schaue aber sehr optimistisch in die Zukunft.

Für Union erzielte Rafal Gikiewicz im Oktober 2018 gegen Heidenheim kurz vor Ende das 1:1 per Kopf.
© imago images

Nach dem Aufstieg mit Union wurden Sie Mitte 2019 nach langer Zeit mal wieder zur Nationalelf eingeladen, kamen in den beiden EM-Qualifikationsspielen aber nicht zum Einsatz. Wie realistisch ist eine weitere Nominierung und vor allem auch ein Einsatz?

Gikiewicz: Das war mein größter Traum, den ich unbedingt erreichen wollte. Sie hätten mir nur eine Minute geben sollen. Das habe ich unserem Nationaltrainer Czeslaw Michniewicz auch genau so im Sommer gesagt. Danach höre ich auch auf, mit der Nationalmannschaft zu nerven. (lacht) Er sagte mir aber, dass ich nur nominiert werde, wenn sich entweder Wojciech Szczesny oder Lukasz Skorupski verletzen. Sie haben sich nicht verletzt, daher war ich jetzt TV-Experte bei der WM.

Seit Sie in Augsburg sind, haben Sie nur fünf Pflichtspiele verpasst und im vergangenen Sommer erstmals überhaupt einen Vertrag bei einem Verein verlängert. Sie sind jetzt 35. Wie lange soll es gehen?

Gikiewicz: Ich will noch sechs Jahre spielen.

Klebt ein Ziel wie dieses auch aufgeschrieben auf Zetteln an Ihrem Kühlschrank, so wie Sie es jedes Jahr mit Ihren persönlichen Saisonzielen handhaben?

Gikiewicz: Nein, dort hängen immer nur kurzfristige Ziele. Zum Beispiel, dass ich einmal mehr zu Null spielen möchte als in der vergangenen Saison. Ich bin zwar 35, aber habe ein besseres Gefühl als zu meiner Anfangszeit in Deutschland. Ich kenne jetzt meinen Körper sehr gut und weiß, was er braucht, um mich weiter zu entwickeln. Ich will stets besser sein als der Gikiewicz von gestern.

Was wäre denn, wenn in zwei Jahren ein Angebot aus Saudi-Arabien käme, wo Sie nochmal richtig Asche machen könnten?

Gikiewicz: Dann sage ich ihnen, sie sollen sich zwei Jahre später wieder melden.

In Augsburg haben Sie bislang 27 Pflichtspielsiege erreicht. Gibt es noch die Vereinbarung mit Ihrem ältesten Sohn, dass er nach jedem Ihrer Siege neue Lego-Bausteine bekommt?

Gikiewicz: Nein, das hat schon nach Braunschweig aufgehört. Dort bekam er nach jedem Sieg Lego im Wert von rund 50 Euro. Heute geht er das mit meiner Frau einkaufen, er ist ein riesiger Fan. Sein ganzes Zimmer ist voll, beim Umzug nach Augsburg hatten wir 50 Boxen nur für Lego. Die Sammlung ist auch ein paar tausend Euro wert. Ich sage zu ihm immer: Wenn die Inflation weiter steigt, machen wir damit schön Reibach! (lacht)

Rafal Gikiewicz: Seine Stationen im Seniorenbereich im Überblick

VereinZeitraum
DKS Dobre Miasto2004-2006
Sokol Ostroda2006
Drweca Nowe Miasto Lubawskie2006-2007
Wigry Suwalki2007-2008
Jagiellonia Bialystok2008-2011
OKS Stomil Olsztyn (Leihe)2010
Slask Wroclaw2011-2014
Eintracht Braunschweig2014-2016
SC Freiburg2016-2018
1. FC Union Berlin2018-2020
FC Augsburgseit 2020