Handball - Marcel Schiller im Interview: "Kobe Bryant war eine riesengroße Inspiration"

Marcel Schiller ist in der aktuellen Form Deutschlands bester Linksaußen.
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Zurück zum Handball: Deutschland hat eine - teilweise erklärbar - schwache WM absolviert und sich jetzt bei der Quali im Spiel gegen Slowenien so gut wie lange nicht präsentiert. Das wahre Leistungsvermögen ist ganz schwer zu greifen. Wo steht Deutschland momentan?

Schiller: Das ist eine sehr interessante, aber auch eine sehr schwierige Frage. Nehmen wir zum Beispiel die Schweden als Vize-Weltmeister, die mit ihrem Tempospiel meiner Meinung nach aktuell vielleicht den besten Handball in der Weltspitze spielen. Schweden hatte bei der Quali nahezu den identischen Kader wie bei der WM dabei, wir haben hingegen die halbe Mannschaft getauscht. Natürlich haben viele bei uns dennoch schon häufig zusammengespielt, dennoch ist es ein Faktor. Du brauchst im Handball ein optimales Timing, um dann als Mannschaft in einen Rhythmus zu kommen. Wenn wir es schaffen, uns als Mannschaft noch mehr zu finden, und die nächsten Lehrgänge und Spiele nutzen können, um uns weiter einzuspielen, sehe ich uns schon ziemlich weit oben. Auf der anderen Seite haben wir noch zu große Schwankungen im Spiel. Die haben Dänemark oder Spanien nicht, deshalb können wir auch nicht sagen, dass wir mit denen aktuell auf einem Level sind. Aber wir haben ein großes Potenzial in der Truppe und können jeden schlagen, davon bin ich überzeugt.

Was heißt das konkret für Olympia?

Schiller: Das heißt, dass wir uns sicher nicht als Mitfavorit auf Gold bezeichnen sollten. Das wäre nach unserem Abschneiden bei der WM nicht angebracht. Trotzdem ist bei so einem olympischen Turnier nahezu alles möglich. Es gibt vielleicht ein paar schwächere Teams, aber von den restlichen Mannschaften hat jede das Potenzial für Gold, wenn alles optimal läuft. Gerade der Start in so ein Turnier ist so entscheidend dafür, ob du in einen richtigen Flow kommst und es gefühlt von selbst läuft, oder ob du ein Spiel dumm verlierst und das dann durchs Turnier schleppst. Vielleicht ist es ganz gut, dass das olympische Turnier so stark besetzt ist, weil du von der ersten Sekunde an voll da sein und Vollgas geben musst. Da gibt es keine Ausreden.

"Deutschland kann nichts Besseres passieren als Gislason"

Wie ist denn der Faktor Alfred Gislason einzuschätzen?

Schiller: Der deutschen Handball-Nationalmannschaft kann aktuell nichts Besseres passieren als Alfred Gislason. Dieser Mann strahlt so ein Selbstbewusstsein aus, er hat so viel Erfahrung und so viele Titel gewonnen, so viele Weltklassespieler geformt, dass er einem als Spieler ein enorm gutes Gefühl gibt. Man fühlt sich sicher, wenn man weiß, dass Alfred an der Seitenlinie steht. Jeder Spieler spürt das Vertrauen. Auch wenn es bei der WM am Ende ergebnistechnisch schlecht lief, hat man da schon gesehen, was seine Präsenz ausmacht. Wir wussten, dass wir durch die vielen Ausfälle nicht zu den Top-Teams gehören, aber Alfred hat uns trotzdem das Gefühl gegeben, dass wir weit kommen können. Dass es nicht so kam, lag am Ende an ein paar wenigen Stellschrauben - gegen Ungarn und Spanien waren wir ja gar nicht so weit weg. Wie gesagt: Deutschland kann nichts Besseres passieren als Alfred Gislason.

Persönlich erleben Sie gerade die beste Phase Ihrer Karriere. Am Wochenende war von einer Wachablösung auf Linksaußen zu lesen, es gab Schlagzeilen wie "Schiller läuft Gensheimer den Rang ab". Was macht das mit Ihnen, wenn Sie so etwas lesen?

Schiller: Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich nicht so viel Wert darauf lege, was irgendwo geschrieben steht. Für mich ist das nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich abliefern muss und will. Ich habe über die Jahre relativ viel Pech gehabt mit der Nationalmannschaft. Es gab immer wieder Spieler, die eine überragende Saison absolvierten und mir dann vorgezogen wurden. In der Saison der Heim-WM hat Matthias Musche damals überragend gespielt und sich seine Nominierung verdient. Das musste ich akzeptieren, auch wenn ich dann der Leidtragende war. Richtig wehgetan hat die EM 2020, als Patrick Zieker statt mir mit zum Turnier durfte. Das war hart. Aber vielleicht war es auch gut für mich, weil es mich noch hungriger und heißer gemacht hat. Ich habe danach immer nur noch mehr an mir gearbeitet und nie den Kopf in den Sand gesteckt. Mein Ziel war und ist es bis heute, jeden Tag besser zu werden und dem Trainer zu zeigen, dass er an mir einfach nicht vorbeikommt. Ich würde sagen, dass ich in der Abwehr momentan auf einem Level bin, auf dem ich noch nie war in meiner Karriere. Offensiv bin ich immer noch nicht ganz zufrieden, weil es in jedem Spiel ein paar Würfe gibt, die ich liegen lasse, obwohl ich sie meinem Anspruch nach machen muss.

Schiller: "Was Uwe geleistet hat, ist unfassbar"

Egal, was geschrieben wird: Es ist ja Fakt, dass Sie momentan der beste Linksaußen sind und Uwe Gensheimer überholt haben.

Schiller: Ich habe Uwe schon verfolgt und zu ihm aufgeschaut, als ich 15 Jahre alt war. Er war immer mein Lieblingsspieler. Als ich einmal ein paar Probleme mit ein paar Torhütern hatte, habe ich Uwe geschrieben und ihn um Rat gefragt. Wir kannten uns damals noch gar nicht so gut, aber ich war mir nicht zu schade, ihn nach Tipps zu fragen. Was kann es Besseres geben, als sich Tipps von dem Mann zu holen, der auf meiner Position der Weltbeste ist? Auch bei jedem gemeinsamen Lehrgang habe ich versucht, alles aufzusaugen und von ihm zu lernen. Ja, vielleicht läuft es aktuell bei mir etwas besser als bei ihm und es macht mich stolz, wenn ich so gute Leistungen bringen kann, aber das ändert nichts daran, dass Uwe ein Weltklasse-Spieler ist. Was er schon für den deutschen Handball geleistet hat, ist unfassbar. Wenn es bei ihm wie gegen Schweden nicht so läuft, komme ich rein und versuche, jede Minute so gut es geht zu nutzen. Mein Ziel ist es, auch irgendwann Weltspitze und genauso gut, oder sogar besser zu sein. Ob ich das jemals schaffe, weiß ich nicht, aber ich versuche, jeden Tag an mir zu arbeiten. Was ich weiß, ist, dass mein Selbstvertrauen noch nie so groß war wie im Moment.

Letzte Frage: Worauf freuen Sie sich denn schon am meisten, wenn Sie an die Olympischen Spiele denken?

Schiller: Erstmal würde ich mich freuen, wenn ich überhaupt dabei. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Gerade angesichts des kleineren Kaders bei Olympia. Ich weiß noch gar nicht, wie Alfreds Gedanken dazu sind. Wenn er auf den Außenpositionen jeweils zwei Leute mitnimmt, sind das ja schon vier von 14 Plätzen. Ich konzentriere mich jetzt erstmal wieder auf die Saison mit Göppingen und muss bis zu den Olympischen Spielen weiter abliefern. Und hoffentlich fit bleiben. Aber wenn ich dann wirklich dabei sein sollte, ist es für mich keine Frage, was ich mir am liebsten anschauen würde: ein Spiel der US-Basketballer. Das wäre mein absoluter Höhepunkt.

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