Leon Bailey: Dunkle Erinnerungen an die Straßen von Cassava Piece

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Mit sieben Jahren wurde Leon Bailey Zeuge einer Schießerei, mit 12 verließ er seine Familie in Jamaika, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Auch der Weg bis zum Star-Einkauf von Bayer Leverkusen war dann nicht einfach. Bei einer solchen Lebensgeschichte fällt eine verkorkste Saison bei Aston Villa nicht wirklich ins Gewicht - auch wenn es jetzt einen Lichtblick gibt.

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Als Steven Gerrard am Ende der vergangenen Saison Bilanz über seine erste Saison bei Aston Villa zog, war er mit dem Ergebnis unzufrieden: "Wir sind in der Premier League geblieben und haben den 14. Platz belegt, was nicht akzeptabel ist und womit wir überhaupt nicht zufrieden sind."

Den Klub hatte er erst im November 2021 im Abstiegskampf übernommen, daher fanden es im Umfeld des Klubs auch viele ganz okay, dass man nicht den Gang in die 2. Liga antreten musste. Mehr war für sie nicht drin. Diese Zufriedenheit mit dem Minimalen - auch innerhalb der Mannschaft - nervte die Liverpooler Legende aber gewaltig.

Er fand recht klare Worte dazu: "Ich möchte, dass die Spieler besessen davon sind, zu gewinnen. Ich will Gewinner in der Umkleidekabine. Ich will keine Spieler, die sich damit zufriedengeben, 14. in der Liga zu werden und früh aus dem Pokal zu fliegen. Das muss uns wehtun!" Er wolle eine "neue Kultur" schaffen, sagte Gerrard damals - was auch in einen Kaderumbruch mündete.

Versager weg, Mentalitätsspieler her, hieß die Aufgabe. Im Umfeld des Klubs zählte man bei den Spielern, die eventuell gehen könnten, auch häufig Leon Bailey auf. 40 Millionen Euro hatte der gekostet, aber fast nie gezeigt, warum er diese Investition wert ist.

Zu einem kleinen Umbruch kam es tatsächlich, aber Bailey stand nie zur Diskussion.

Gutes Verhältnis: Steven Gerrard und Leon Bailey.
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Gutes Verhältnis: Steven Gerrard und Leon Bailey.

Steven Gerrard lobt Leon Bailey: "Er ist ein anderer Spieler"

Ganz im Gegenteil. Die hervorragende Saisonvorbereitung, in der er für viele Beobachter der beste Villa-Spieler war, gipfelte in einer grandiosen Leistung beim Testspiel gegen Manchester United Ende Juli in Australien. Der eingewechselte Bailey spielte überragend und schoss in der Nachspielzeit das 2:2. Sein Trainer sah "ein starkes Signal" für die neue Saison.

Gerrard lobte: "Es war mehr als nur ein Einfluss. Er hat das Spiel verändert, er hat Energie gezeigt, er hat Schnelligkeit gezeigt, er hat den Hunger, dem Gegner Sorgen zu bereiten. Er ist aus dem Urlaub als ein anderer Spieler zurückgekommen." Einer, der die 40 Millionen Euro nun rechtfertigen soll.

Zu seinem Schutz muss man sagen, dass Bailey in seinem ersten Jahr von Verletzungen zurückgeworfen wurde und eine sportlich hochwertige Saison so kaum möglich war. "[Gerrard] sagt, dass ihm gefällt, was er sieht. Ich freue mich auf die neue Saison und darauf, mit der Mannschaft in den Kampf zu ziehen", betont Bailey selbst.

Leon Bailey: Eines von 23 Adoptivkindern

Selbstverständlich haben die vielen Rückschläge der vergangenen Saison den Flügelspieler beschäftigt, aber der 24-Jährige hat in seinem jungen Leben schon so viel erlebt, dass er weiß, wie man mit Negativerlebnissen umzugehen hat und wie sie zu gewichten sind. Er weiß, dass es schlimmere Dinge im Leben gibt, als ein paar Premier-League-Spiele zu verpassen oder nicht auf Anhieb Publikumsliebling zu werden.

Das weiß man, wenn man aus Cassava Piece kommt, einem Ghetto-Viertel in Kingston. Dort, in der Hauptstadt Jamaikas, ist Bailey aufgewachsen. "Es gab viele Zeiten, in denen es kein Geld für Essen gab oder kein Geld, um zur Schule zu gehen", erzählt er im Guardian: "Es waren harte Zeiten, aber ich bin an harte Zeiten gewöhnt. Deshalb lasse ich mich auch nie unterkriegen."

Es ist nicht einfach, über die Schattenseiten des Lebens zu sprechen. Manchmal fesseln dich die Erinnerungen und lassen dich nicht mehr los. Manchmal hat es aber auch eine befreiende Wirkung. Bailey ist jemand, der gerne nach vorne schaut: "Ich baue mich einfach wieder auf und lerne daraus. Das macht mich stärker und ich will noch weiter machen."

Er ist auch geübt darin, ständig neu anzufangen. Bailey war erst 12, als ihn sein Adoptivvater Craig Butler mit einem One-Way-Ticket mit nach Europa nahm. Butler ist ein wichtiger Bestandteil seiner Lebensgeschichte. Bailey war einer von 23 (!) Jungs, die Butler adoptierte. Er wollte sie von der Straße holen, ihnen eine Perspektive geben. Auch aus Eigennutz, aber wenn dadurch den Kindern geholfen werden konnte, war das okay.

Craig Butler erzählte einmal, wie er sich daran erinnert, wie traumatisiert Leon und ein paar andere Jungs waren, als sie mit etwa sieben Jahren eine Schießerei auf der Straße miterlebten. "Ich habe viel gesehen, und ich möchte nicht, dass meine Freunde oder meine Familie diese Erfahrungen machen müssen", sagt Bailey selbst.

Bailey in Österreich: Cool Runnings, Bob Marley, Kiffen

Mit auf der Reise nach Europa waren auch Baileys Stiefbrüder Kyle und Kevaughn Butler, die leiblichen Söhne Craigs. Sie kamen als erstes in Österreich an, aber es war nicht auf Anhieb das Paradies. Butler, der schon in der Heimat eine Fußball-Akademie geführt hatte und seine adoptierten Jungs dort versammelte, suchte nach einem Ausweg im Fußball.

Aber es war nicht einfach. Sie kamen im Winter an - eine Jahreszeit, die die Jamaikaner nicht wirklich kannten. Sie mussten gegen Klischees kämpfen, mit denen sie jeden Tag konfrontiert wurden. Cool Runnings, Bob Marley, Kiffen, hahaha. Zum Lachen war ihnen aber nicht, sie hatten wenig Mittel, kaum Perspektiven und wollten eine durch den Fußball gewinnen.

Bailey brauchte nicht lange, bis er in der Jugend des USK Anif Fuß fassen konnte und verschaffte sich so Respekt. In Österreich kursieren Legenden, wonach Bailey in 16 Spielen für die U15 75 Tore erzielt haben soll. Belegt wurde das nie. Das Gerücht allein reichte für ein Probetraining bei Rapid Wien - aber Bailey fiel durch.

Die Stationen von Leon Bailey

ZeitraumKlub
2011 - 2013USK Anif (Jugend)
2013 - 2015AS Trencin (Jugend)
2015 - 2017KRC Genk
2017 - 2021Bayer Leverkusen
seit 2021Aston Villa

Baileys Stiefvater Craig Butler: Wurde er entführt?

Die Reise setzte sich in Belgien fort, wo Butler offenbar gute Kontakte hatte. Der KRC Genk hatte schon immer ein Auge für gute Talente und wurde so auf Bailey aufmerksam. Der Klub wollte ihn sofort unter Vertrag nehmen, aber dann tauchte Craig Butler plötzlich ab. Spurlos verschwunden. Auf einmal waren Bailey und seine Söhne "unbegleitete Minderjährige" in Belgien und damit faktisch illegal im Land.

"Das war eine kranke Situation", sagte Genks Technischer Direktor Gunter Jacob: "Um zu verhindern, dass die Jungs auf der Straße herumliefen, haben wir dafür gesorgt, dass sie zur Schule gehen konnten und bei uns ausgebildet wurden."

Als Leon in Genk schon voll integriert war, tauchte Baileys Adoptiv-Vater wieder auf - und tischte laut Kurier eine wirre Geschichte auf: Er sei entführt und in der Wüste Mexikos zurückgelassen worden. Als Ermittlungen starteten, verschwand er mit seinen Söhnen in die Slowakei.

Für den AS Trencin war Bailey natürlich viel zu gut. So holte Genk den schon damals unheimlich schnellen Angreifer nach dessen Volljährigkeit zurück. Der damalige Genk-Trainer Peter Maes erinnert sich bei Bleacher Report an Baileys Unterschrift: "Die ersten Worte, die er zu mir sagte, waren: 'Ich bin nun nach Genk gekommen und ich will hier lernen, aber in drei Jahren will ich in einer besseren Liga als der belgischen spielen."

Der Rest ist schnell erzählt. Der Wechsel zu Bayer Leverkusen, der aufgehende Stern in Europa, der 40-Millionen-Wechsel zu Aston Villa in die Premier League. Kennt man nun die Geschichte des Leon Bailey, wirken auch weitere Episoden im Leben des 24-Jährigen ganz anders.

Leon Bailey und Craig Butler im Jahr 2016. Da spielte der Flügelflitzer schon wieder beim KRC Genk.
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Leon Bailey und Craig Butler im Jahr 2016. Da spielte der Flügelflitzer schon wieder beim KRC Genk.

Leon Bailey: Die Sache mit der Erpressung

Da ist die Geschichte aus dem Oktober 2018, als gemeldet wurde, dass Bailey seinen Einsatz für die Nationalmannschaft Jamaikas verweigerte. Er forderte, dass auch sein Bruder Kyle Butler eine Einladung für Jamaika erhält, ansonsten würde er nicht spielen. "Ich muss auch an meine Interessen denken. Wenn ich ohne geeignete Unterstützung für Jamaika spiele, kann das meiner Karriere schaden", sagte Bailey damals.

Das Problem war nur, dass Kyle nicht ansatzweise das Leistungsvermögen seines Stiefbruders hatte, in der 3. Liga Österreichs spielte und selbst für ein Fußball-Entwicklungsland wie Jamaika nicht gut genug war. Hinter dem plötzlichen Sinneswandel Baileys, der sich zunächst freute, für Jamaika zu spielen, steckte damals wohl Craig Butler: Der wollte nicht nur einen Sohn auf der großen Bühne sehen, sondern am besten noch einen zweiten.

Wenn jemand wie Craig Butler einen kleinen Jungen aus dieser schrecklichen Umgebung befreit, bleibt so etwas hängen. Es prägt. Man will etwas zurückgeben.

Es klingt absurd und es ist weit weg von jeder Logik, dass Bailey so handelte und somit gar Ärger von seinen Chefs bei Bayer Leverkusen kassierte. Aber mit etwas Empathie für das gemeinsam Erlebte, für die Dankbarkeit, die Bailey gegenüber seinem Stiefvater offenbar hegen musste, ist der Vorgang weniger überraschend. Noch heute ist Craig Butler sein Berater, das Verhältnis ist innig wie eh und je.

Immerhin ist Leon Bailey nun angekommen. In der Mitte des Fußballs, in der Mitte der Gesellschaft. Im Jamaika ist er ein Volksheld und natürlich gibt es eine enge Bindung zu Usain Bolt, mit dem auch schon die eine oder andere gemeinsame Party geschmissen wurde. "Usain ist ein sehr bescheidener Mensch und ich schaue immer zu ihm auf und respektiere ihn dafür. Er gibt mir immer nützliche Ratschläge dazu, wie man auf seinen Körper aufpasst", sagt Bailey.

Ob es an Bolt lag, dass Bailey nun so formstark zurückgekehrt ist? "Er ist wie ein Neuzugang", freut sich Trainer Gerrard. Bailey freut sich seinerseits darauf, sich erneut beweisen zu können.

Die Heimat hat er dabei immer bei sich. Der Schriftzug "Cassava Piece Kingston. Where It All Started" ist auf seinen Fußballschuhen eingraviert. Damit er niemals vergisst, wo er herkommt.

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