DTB-Damentennis-Chefin Barbara Rittner im Interview: "Ich bin gottfroh, nicht so aufgewachsen zu sein"

Barbara Rittner spricht im Interview über das Corona-Jahr 2020.
© spox

Barbara Rittner ist die Chefin des deutschen Damentennis und als "Head of Women's Tennis" auch für die Nachwuchsentwicklung beim DTB verantwortlich. Im Interview mit SPOX erklärt Rittner, warum das Jahr 2020 trotz Corona kein verlorenes Jahr war und wie sie auf die Entwicklung der jungen Spielerinnen beim DTB blickt.

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Außerdem verrät Rittner, warum sie sich in puncto Reizüberflutung große Sorgen macht und spricht über die Situation von Angelique Kerber.

Frau Rittner, ein ganz besonderes Jahr 2020 neigt sich dem Ende zu. Die Corona-Pandemie hat die Welt nach wie vor fest im Griff. Woran müssen Sie zuerst denken, wenn Sie über das Jahr 2020 nachdenken?

Barbara Rittner: Mir schießt als Erstes die Zeit des ersten Lockdowns in den Kopf. Nach ewigen Zeiten war ich mal wieder sechs Wochen am Stück zuhause. Das kannte ich gar nicht mehr. Nach meiner aktiven Karriere ging es für mich nahtlos weiter mit dem Trainerjob - es muss 30 Jahre her gewesen sein, dass ich eine so lange Zeit daheim verbracht habe. So verrückt es klingt, ich habe die Zeit genossen. Ja, ich war isoliert, aber so hatte ich mal die Chance zu einer kompletten Entschleunigung. Ich hatte Zeit für mich. Zeit zum Nachdenken. Das Reisen hat mir persönlich überhaupt nicht gefehlt.

Es ging ja dann aber auch wieder relativ schnell weiter mit der Arbeit.

Rittner: Richtig. Wir haben schon am 22. April die Freigabe für Lehrgänge bekommen in Stuttgart. Die nächsten Monate haben wir Woche für Woche Lehrgänge durchgezogen, teils sogar am Wochenende auch noch. Wir haben die Zeit mit den U18-Spielerinnen wirklich intensiv genutzt, um an ihren körperlichen Defiziten zu arbeiten. Mehr konnten wir ja nicht machen. Es hat mir natürlich leidgetan, dass wir sie so wenig rausschicken konnten zu Turnieren, bei denen sie sich hätten messen können. Bei denen sie sich dann die Belohnung für ihre harte Arbeit hätten abholen können. Diese Wettkampferfahrung wird unseren starken Jahrgängen 2002, 2003 und 2004 auch hinten raus fehlen. Da wurden sie um ein Jahr an Match-Erfahrungen zurückgeworfen. Umso mehr war die DTB-Serie, die wir ins Leben rufen konnten, Gold wert. Wir haben das Beste aus einer schwierigen Situation gemacht.

Rittner: "Die Mädels sind erwachsener geworden"

Was war denn für Sie die größte Herausforderung in all den Monaten?

Rittner: Tennis lebt ja sehr von einer klaren Struktur und von einer genauen Planung. Und ich lebe ehrlich gesagt auch davon. (lacht) Ich mag es, planen zu können. Wenn mich jemand fragt, was ich im Juli mache, muss ich normalerweise nicht eine Sekunde überlegen. Weil ich dann in Wimbledon bin. Daran bin ich gewöhnt, so ticke ich seit 30 Jahren. Aber in diesem Jahr sind alle Pläne von uns Trainern immer mehr gebröckelt und mussten dann komplett über den Haufen geworfen werden. Wir mussten ständig spontan reagieren und uns auf die neuen Situationen einstellen. Gerade wenn du in leitender Funktion tätig bist und Jahrespläne für so viele Menschen im Kopf hast, war das eine neue Erfahrung und interessante Herausforderung.

Sie mussten sich mit Ihrem Trainerteam vor allem Gedanken machen, wie Sie es schaffen, dass 2020 nicht ein "verlorenes Jahr" wird für die DTB-Talente. Wie haben Sie sich dieser Thematik gestellt?

Rittner: Das Witzige war, dass ich Anfang des Jahres noch vor Corona im Spaß zu unseren Konditionstrainern meinte, dass so eine erzwungene Trainingsphase eigentlich gar nicht schlecht wäre. Dann könnten sich die Älteren wie Angelique Kerber oder Andrea Petkovic besser erholen und für die Jüngeren könnten wir ein perfektes Aufbautraining machen. Intensives Krafttraining, Läufe, bessere Grundlagenausdauer - und dann ist durch Corona erzwungenermaßen tatsächlich genau das passiert. Wir waren uns bewusst, dass wir hier jetzt ungewollt eine große Chance haben und es einfach darauf ankommt, wie wir sie nutzen. Ein Vorteil war ja zu der Zeit auch, dass es keine Schulpräsenzpflicht gab für einige Mädels. Es gab keine Turniere. Sie konnten den Trainingsplan mit vollem Fokus durchziehen, ohne nach links oder rechts zu schauen. Aus dem Grund würde ich in puncto Weiterentwicklung überhaupt nicht von einem verlorenen Jahr sprechen. Wahrscheinlich werden sie irgendwann auf 2020 zurückblicken und sagen: Das war der größte und intensivste Trainingsblock, den ich jemals gemacht habe.

Mentalcoach Holger Fischer, der auch mit Andrea Petkovic zusammengearbeitet hat, meinte schon früh in der Pandemie in einem SPOX-Interview, dass es sehr interessant zu beobachten sein wird, wie die Sportler mit der Situation umgehen und dass sich Kräfteverhältnisse auch verschieben könnten. Was hat das Jahr 2020 mit den Nachwuchsspielerinnen gemacht aus Ihrer Sicht?

Rittner: Insgesamt haben es alle sehr gut bewältigt und alle waren auch größtenteils hochmotiviert. Ich würde sagen, dass die Mädels erwachsener geworden sind. Viele waren bei uns alleine auf sich gestellt und mussten lernen, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Sie haben besser verinnerlicht, was Profi-Alltag bedeutet. Natürlich fällt es der einen leichter mit Situationen umzugehen und der anderen etwas schwerer. Wenn es zum Beispiel darum geht, Dinge langfristiger zu betrachten. Da geht es manchmal auch um Mentalitätsfragen. Alex Vecic brennt so sehr darauf, wieder Turniere zu spielen. Andere sind ruhiger. Wir haben viele individuelle Gespräche geführt, um auf die verschiedenen Bedürfnisse einzugehen und wir haben sehr darauf geachtet, die Motivation die ganze Zeit nie abflachen zu lassen. Das war uns sehr wichtig. Wir haben Challenges gemacht und immer wieder gemeinsam mit den Spielerinnen kurzfristige Ziele formuliert, so sind wir gut durch das Jahr gekommen.

Rittner: "Ich mache mir ernsthaft große Sorgen"

Sie haben die Eigenverantwortung angesprochen. Was haben die Spielerinnen noch gelernt?

Rittner: Ein ganz wichtiger Punkt auf das Training bezogen war die Konstanz. Sie haben hoffentlich gelernt, dass ich im Training nicht eine Woche Gas geben und dann wieder zwei Wochen schlampig sein kann. Das funktioniert so nicht. Du musst kontinuierlich und intensiv arbeiten, Tag für Tag musst du dein Pensum abspulen, dann wirst du auch belohnt. Aber eben auch nicht unbedingt sofort. Viele Mädchen denken noch sehr kurzfristig und mussten lernen, dass nicht alles innerhalb von einer Woche passiert. Wenn man es weiter fassen will, würde ich sagen, dass sie gelernt haben, ihren Welpenschutz abzulegen. Alle haben eine ganz große Leidenschaft für den Sport, das ist ein Grundbaustein, aber jetzt müssen sie auch realisieren, für welchen Weg sie sich entschieden haben und dass es ihr Job werden soll.

Sie haben schon des Öfteren angesprochen, dass Sie sich ein bisschen um die innere Ruhe der Spielerinnen sorgen. Stichwort: Handynutzung. Wenn man sich die Netflix-Doku über Soziale Medien anschaut, sollte man danach sofort alles vom Handy löschen. Wie viel Gedanken machen Sie sich um diese Problematik?

Rittner: Ich mache mir ernsthaft große Sorgen. Die Mädels sind extremen äußeren Einflüssen ausgesetzt - sie werden quasi den ganzen Tag beschossen. Ich kann nicht mehr machen, als zu versuchen, es immer wieder anzusprechen und zu thematisieren. Es ist eine enorme Reizüberflutung. Sie sind ständig am Handy, posten zum Beispiel ein Bild und warten dann darauf, was es für Reaktionen oder Kommentare gibt. Dieses ständige sich bewertet fühlen ist schlimm und eine große Belastung. Ich bin gottfroh, nicht so aufgewachsen zu sein. Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass sie es falsch einschätzen und zu spielerisch sehen. Wir haben es bei der DTB-Serie erlebt, als auf die Matches gewettet werden durfte und es aus der Anonymität heraus heftige Kommentare gab: "Du bist zu fett! Wie kannst du nur verlieren?" Und dann machen sich die Mädels Gedanken darüber. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie es als sehr angenehm empfinden, wenn wir zu Beginn eines Lehrgangs mal die Handys eingesammelt haben. Sie haben gemerkt, wie erholsam es sein kann, nicht die ganze Zeit aufs Handy zu starren. Wenn sie dafür Zeit für sich haben. Ich würde mir wünschen, wenn sie für die Hälfte des Tages das Handy weglegen würden, das wäre gesünder. Aber ich verstehe auch die Verlockungen.

2020 war eine Reise ins Ungewisse, aber 2021 wird wohl mindestens eine Zeit lang kaum anders aussehen. Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Rittner: Gar nicht. Wir sprechen es ganz offen an, dass wohl bis März oder April nicht viel möglich sein wird. Wir haben uns auch als DTB dazu entschieden, dass wir bis auf Weiteres keine Spielerin aktiv bei Jugendturnieren betreuen werden. Da geht die Gesundheit einfach vor. Kein Tennisturnier der Welt kann so wichtig sein, dass die Gesundheit riskiert wird. Das versuchen wir vorzuleben. Wir versuchen aber natürlich so gut es geht Trainingsprogramme anzubieten und Lehrgänge zu ermöglichen - auch weil wir gesehen haben, wie viel leichter es ist, in der Gruppe zu trainieren und sich gegenseitig zu motivieren. Aktuell müssen wir schauen, was Anfang Januar möglich sein wird abhängig vom Infektionsgeschehen und den Verordnungen. Ich gehe davon aus, dass in den ersten vier, fünf Monaten sehr viel Training stattfinden wird und sehr wenig Turniertennis, gerade im Jugendbereich. Wir werden schauen müssen, wie wir innerhalb der Stützpunkte in Gruppen Matches austragen können.

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