Kommentar zum Wimbledon-Sieg von Novak Djokovic: Verdammtes Mentalitätsmonster!

Erleichterung statt Freude: Novak Djokovic jubelte nach dem gewonnenen Matchball sehr verhalten.
© getty

Novak Djokovic ist zum fünften Mal Wimbledon-Sieger. In einem unglaublich spannenden Match ringt der Weltranglistenerste Roger Federer mit 7:6, 1:6, 7:6, 4:6 und 13:12 nieder. Dabei ist der Djoker nicht unbedingt der bessere Spieler - doch eine entscheidende Qualität gibt den Ausschlag. Ein Kommentar von SPOX-Redakteur Stefan Petri.

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Irgendwann, vielleicht beim Stand von 6:6 im fünften Satz, oder auch bei 9:9, oder bei 12:12, hätten Djokovic und Federer sich doch am Netz treffen, einander die Hand geben und das Finale auf dem Centre Court von Wimbledon als Unentschieden werten können. Oder noch besser: als Match mit zwei Siegern. Auf den goldenen Siegerpokal hätte man flugs beide Namen eingraviert, der Graveur hat schließlich Übung, und dann hätten sie ihn sich eben geteilt. Beschwert hätte sich in der weltweiten Tennisgemeinde wohl niemand.

Denn dieses Match, auch wenn dieser Ausdruck so abgewetzt und verstaubt rüberkommt wie der Pseudo-Rasen an den Centre-Court-Grundlinien am Finaltag, hätte zwei Sieger verdient gehabt. Und schon gar keinen Verlierer. Doch, Zitat Djokovic, wie das nun einmal ist: "Leider muss einer verlieren."

Verloren hat, zumindest auf dem offiziellen Scoreboard, Roger Federer. Novak Djokovic darf sich an seiner fünften Wimbledon-Trophäe erfreuen, der Schweizer hat seinen neunten Titel im Rasen-Mekka verpasst.

Warum? Weilte Jürgen Klopp nicht gerade bei der Saisonvorbereitung seines FC Liverpool, er hätte es aus der Box des Serben proklamieren können: Weil Nole ein verdammtes Mentalitätsmonster ist!

Wimbledon-Finale: Federer war eigentlich besser als Djokovic

Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Federer war in fast allen Statistiken überlegen. Mehr Asse, weniger Doppelfehler, bessere Aufschlagquote, besser am Netz, mehr Breaks, mehr Winner, mehr Punkte insgesamt. Er returnierte besser als der Djoker (!) und legte insgesamt fast 200 Meter mehr (!!) zurück.

Ja, er hatte am Ende zehn leichte Fehler mehr auf dem Konto, hin und wieder wies gerade die Vorhand eine ordentliche Streuung auf. Aber besser kann Federer eigentlich nicht spielen auf seinem Lieblingsuntergrund - der, das muss man auch sagen, mit seinem Lieblingsuntergrund von 2003, damals gewann er zum ersten Mal Wimbledon, nicht mehr viel gemein hat.

Die Statistiken zum Wimbledon-Finale

Novak Djokovic Roger Federer
10Asse25
9Doppelfehler6
136/219 (62 Prozent)Quote erster Aufschlag127/203 (63 Prozent)
101/136 (74 Prozent)Punkte erster Aufschlag100/127 (79 Prozent)
39/83 (47 Prozent)Punkte zweiter Aufschlag39/76 (51 Prozent)
24/38 (63 Prozent)Punkte am Netz51/65 (78 Prozent)
3/8 (38 Prozent)Breakbälle7/13 (54 Prozent)
64/203 (32 Prozent)Punkte als Returnspieler79/219 (36 Prozent)
54Winner94
52Unforced Errors62
204Punkte insgesamt218
5623,5 MeterZurückgelegte Distanz5819,3 Meter
13,3 MeterGelaufene Meter pro Punkt13,8 Meter

(Kurze Pause. Zeit für ein paar stehende Ovationen. Einfach nur unfassbar, was der Maestro mit fast 38 Jahren noch abliefert. Zur Erinnerung: Pete Sampras war mit 31 draußen, Andre Agassi mit 35 ein körperliches Wrack. Federer spielt mal eben fünf Stunden Grundlinientennis auf Weltklasseniveau. Er hat seine Führung in der GOAT-Diskussion vielleicht nicht ausgebaut, aber eingebüßt ganz sicher auch nicht.)

Djokovic spielt gegen Federer - und 15.000 Federer-Fans

Djokovic dagegen, der kann sehr viel besser spielen, was er im Anschluss an die Partie auch offen zugab. Teilweise wurde er von Federer ausgebremst, dessen Aufschlag er nicht lesen und dessen Taktik mit den kurzen Slice-Bällen er nur zeitweise kontern konnte: "Er hat die meiste Zeit diktiert, ich konnte nur reagieren und musste fighten."

Aber da war auch noch die lange Zeit schwache Quote beim eigenen Aufschlag, die vielen Fehler gegen das zweite Service Federers, die wenigen direkten Punkte und die ungewöhnlichen Standschwierigkeiten bei eigentlich perfekten Bedingungen. Immer wieder rutschte er weg, die typischen Djokovic-Bälle, die er aus dem Lauf im Grätsch-Schritt tief hinter der Grundlinie noch ausgräbt und in Punkte umwandelt, sie kamen extrem selten.

Wenn man gegen den besten Rasenspieler aller Zeiten zwei Stunden und 47 Minuten für den ersten Breakball braucht und fast das komplette Publikum gegen sich hat - "Djokovic spielt praktisch gegen Federer und 15.000 Federer-Fans", twitterte der frühere Wimbledon-Champ Pat Cash - , dann braucht es Eier so groß wie Abrissbirnen.

Zen-Meister Novak Djokovic hat den inneren Frieden

Und den inneren Frieden, den Nole wieder hat, seit seinem Ausflug ins Kalksteingebirge Montagne Sainte-Victoire. Wie sonst kann man diesen verkorksten zweiten Satz so mir nichts dir nichts abschütteln, oder den vierten Satz, oder den Jubel bei eigenen Doppelfehlern, oder die beiden Matchbälle gegen sich bei 7:8 im fünften Satz? Weltklasse, wie er Federer bei dessen zweitem Matchball kurz cross passierte - und schon das dritte Mal, dass er gegen den Maestro bei einem Grand Slam zwei Matchbälle abwehrte und danach noch gewann. Mentalitätsmonster!

Wie ein Zen-Meister saß er im Anschluss bei der Pressekonferenz und versuchte, Worte zu finden für das, was in seinem Kopf vorgeht, was er selbst nur schwer greifen kann: "Man kann volles Risiko gehen, die Augen schließen und so hart wie möglich draufhauen, und das könnte man Mut nennen." Er sehe das anders: "Du musst über fünf Stunden konstant gut spielen, wenn du ein solches Match gewinnen willst. Das braucht Ausdauer, aber auch den Glauben an dich selbst." Und wenn die Unterstützung des Publikums ausbleibt? "Dann musst du sie in dir selbst finden."

Djokovic gewinnt Wimbledon-Finale - auch ohne Bestform

Das Mentalitätsmonster Djokovic fand in sich alles, was es brauchte. Dabei musste es so tief graben wie noch zuvor: "Mental war es das wohl anstrengendste Match meiner Karriere." In einem Match, das so viele verrückte Wendungen erlebte, dass das vielbemühte "Momentum" beim finalen Ballwechsel längst schluchzend hinter einem der hölzernen Netzpfosten kauerte, hatte Djokovic am Ende die nötigen Antworten parat.

Für die Konkurrenz wird er damit nur noch bedrohlicher. Im Finale der Australian Open musste Rafael Nadal schmerzlich erfahren, dass ein Djoker in Topform über der Konkurrenz thront. Doch wenn nun auch ein mittelprächtig agierender Nole triumphiert, und das auswärts in König Rogers Wohnzimmer, ist das mehr als ein Fingerzeig für die nächsten Slams.

Bei den French Open hatte sich Djokovic noch durch die äußeren Umstände aus dem Konzept bringen lassen. Diesmal hielt er seine innere Drama-Queen im Zaum, blieb auch in höchster Not abgeklärt, lamentierte selten und hielt sich nach gewonnenem Matchball mit viel Gespür für die Umstände auffällig zurück.

16 Slams hat er jetzt, weitere sollten folgen. Fehlt eigentlich nur noch die Liebe der Zuschauer. "Wer weiß", sagte der alte und neue Wimbledon-Champion, angesprochen auf die "Roger!"-Sprechchöre, und lächelte dabei: "Wenn ich noch so lange spiele, höre ich in fünf Jahren hoffentlich auch 'Novak!'-Rufe."

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