Das Kind mit der donnernden Linken

Zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag gewinnt Rafael Nadal 2005 sein erstes Grand-Slam-Finale
© getty

Rafael Nadal durchlebt eine Krise. Seit seinem neunten Triumph bei den French Open im letzten Jahr hat er nur noch ein Turnier gewonnen. In der Weltrangliste ist der Spanier nur noch die Nummer sieben. Doch Nadal in Paris, das ist ein Mythos. SPOX blickt zurück auf Roland Garros 2005, als der Stern des spanischen Teenies aufging.

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"Momentan wäre Novak ganz klar der Favorit." Andy Murrays Antwort auf die Frage nach dem Paris-Favoriten lässt im Interview mit SPOX keinen Zweifel daran: Etwas ist anders in diesem Jahr. Der Seriensieger, der Dominator, der Sandplatzkönig Rafael Nadal verbreitet derzeit wenig Schrecken unter den Konkurrenten.

Das weiß der Spanier natürlich selbst. Neu ist, dass er seine Schwächen offensiv artikuliert. "Ich beginne diese europäische Sandplatzsaison in der vielleicht schlechtesten Form meiner Karriere", sagte der 14-malige Grand-Slam-Champion im April gegenüber Television Espanola.

Da hatte Nadal zwar bereits das kleinere Sandplatzturnier in Buenos Aires gewonnen, anschließend aber nicht nur auf den Hartplätzen von Miami und Indian Wells zeitweise alt ausgesehen, sondern auch auf der europäischen Asche Niederlagen kassiert.

Nadal: Ein Erdbeben in Paris

Nur mit der Finalteilnahme in Madrid hat der Spanier ein Fünkchen Hoffnung bei seinen Fans entfacht. "Das Selbstvertrauen kehrt nur zurück, wenn du Matches gewinnst. So einfach ist das", weiß Nadal.

Man muss die Konkurrenz nicht vor einem Nadal in Paris warnen. Allein Djokovic unterlag dem Seriensieger am Bois de Boulogne sechs Mal, zwei Mal davon im Finale. Federer erwischte es fünf Mal, er verlor gleich vier Endspiele.

2005 hatte der 19-Jährige aus Manacor auf Mallorca in Roland Garros ein Erdbeben ausgelöst. Er war der jüngste Grand-Slam-Sieger seit Michael Chang 1989 in Paris (17 Jahre und 4 Monate alt) und der erste Teenager seit Pete Sampras in New York, dem dieses Kunststück gelang.

Kein Triumph aus dem Nichts

"Das Wunderkind" (FAZ) reiste mit den Titeln aus Monte Carlo, Barcelona und Rom an und war bereits Fünfter der ATP-Weltrangliste. Es verließ Paris mit dem vierten Titel in Folge und 24 Siegen am Stück. Am Ende gewann er in seinem Breakthrough-Year elf (!) Titel und katapultierte sich von Rang 51 auf Weltranglistenplatz zwei.

Kurios: Bei den anderen drei Grand Slams war Nadal schon mit 16 und 17 Jahren angetreten. Ausgerechnet Paris verpasste er 2004 wegen eines Ermüdungsbruchs im Knöchel. Statt mit dem Training auszusetzen, setzte er sich mitten auf dem Trainingsplatz auf einen Tisch und schlug Bälle, die Coach Onkel Toni ihm zuspielte. "Ich wollte das Gefühl für mein Spiel nicht verlieren", erzählte Nadal später und verstand die verwunderten Blicke nicht, die er mit dieser Geschichte auslöste.

Der Pirat mit den starken Beinen

Für Kopfschütteln sollte auch sein Outfit in Paris sorgen: grünes ärmelloses Hemd, weiße Dreiviertelpumphosen und ein weißes Bandana, das die wilde Mähne zähmte. Kurzum, er erinnerte an einen Piraten. Und in Wimbledon hätten sie definitiv einen Herzkasper bekommen.

Der Linkshänder spielte mit heftigem Topspin, diktierte die Matches mit seiner Vorhand. Dank starker Beine überzeugte er mit einer exzellenten Abdeckung des Platzes. Er zeigte keinerlei Furcht, bewies Nervenstärke und fegte mit einer Leidenschaft über die rote Asche, die ihm sofort Vergleiche mit dem jungen Boris Becker oder John McEnroe einbrachte. Wobei sich die Parallelen, zumal auf Sand, in engen Grenzen halten.

Denn anders als die Trashtalker der 80er Jahre fällt Nadal von Anfang an durch Höflichkeit und besonders gute Manieren auf. Starke Punkte bejubelte er allerdings schon damals mit geballter Faust und lauten "Vamos"-Anfeuerungsrufen. Seine Gegner nahmen dieses Ritual als psychologische Kriegsführung wahr.

Filmreife Zutaten

Der Junge lieferte alle Zutaten zur Legendenbildung: Der Latin-Look mit den langen Haaren eignete sich für die Poster in den Zimmern der Mädchen ebenso wie seine Heldengeschichte für die Hochglanzcover.

Seine Geschichte war absolut filmreif, aber eigentlich war er noch ein Kind, wenn auch mit ernstem Gesicht. So extrovertiert und wild er sich auf dem Platz gebärdete, so schüchtern und bescheiden zeigte er sich abseits. Eine Schokomilch war zu dieser Zeit sein Hauptsponsor. Wie passend.

Ob er eine Freundin habe? Zurückhaltendes Lächeln: "Nein, eine Freundin habe ich nicht." Ob er eitel sei? "Nein, das ist nicht mein Stil. Im Bad brauche ich morgens sehr wenig Zeit." Er liebe das Golfspielen. Und das Angeln. Er mag es, sagt er, früh aufzustehen und mit dem Boot in den Sonnenaufgang rauszufahren.

Verliebt in Rafa

Presse und Publikum verliebten sich in Paris in das "Kind mit der donnernden Linken", der "Tornado Nadal schonte niemanden" (L'Equipe). Eine "Frisur wie Gabriela Sabatini, Beine wie Madonna (nur 30 Zentimeter länger)" bescheinigte ihm der Telegraph. "Kaum 19, hat er das Spiel, den Look und bemerkenswert gute Manieren", überschrieb die New York Times am Tag nach dem Finale ihr Nadal-Porträt.

In den ersten drei Runden war Nadal in Paris noch unter Radar geflogen. Mit Lars Burgsmüller, Xavier Malisse und Richard Gasquet hatte der 18-Jährige keinerlei Mühe. Auch gegen Landsmann David Ferrer lief es im Viertelfinale glatt. Nur Sebastien Grosjean tags zuvor und der Nummer eins Roger Federer im Halbfinale gelang es, dem Teenie einen Satz abzuknöpfen.

Am Tag des Duells mit dem Schweizer wurde Nadal 19 Jahre alt. Es gab eine Torte und den Sieg über sein großes Vorbild.

Juan Carlos vergisst die Etikette

Was folgte, war ein "verwegener Triumph" (Telegraph), der Spanien verzückte und Nadal weltweit bekannt machte. Den ersten Satz verlor er noch im Tiebreak mit 6:8 gegen den ungesetzten Mariano Puerta. Auch im vierten Satz hatte der Gaucho die Chance zum Ausgleich, als er bei 5:4 drei Satzbälle vergab.

Doch mit seiner unnachahmlichen Athletik und Präsenz schaffte Nadal das Rebreak und machte anschließend mit 6:3, 6:1 und 7:5 den Sack zu - und kürte sich selbst zum Helden. Seit Mats Wilander 1982 hatte niemand mehr die French Open im ersten Anlauf gewinnen können.

Der Moment brachte sogar den spanischen König zu stehenden Ovationen. Nadal, der wie in den nächsten Jahren so häufig nach verwandeltem Matchball erst einmal ungläubig den Schläger fallen ließ und in die rote Asche sank, durfte sich von seiner Majestät umarmen lassen. Juan Carlos musste wohl erst die rote Asche von seinen Sakko-Ärmeln klopfen, ehe er an diesem heißen Sonntagnachmittag seine Loge verließ.

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