Superheld mit Therapiebedarf

Tyson Fury (r.) will Wladimir Klitschko in Düsseldorf besiegen
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Im Duell mit Wladimir Klitschko (Samstag, ab 22.45 Uhr im LIVETICKER) will Tyson Fury in der Düsseldorfer ESPRIT Arena Geschichte schreiben. Im Vorfeld des Kampfes wartete der Brite aber vor allem mit verrückten Einlagen und haarsträubenden Bibelvergleichen auf. Sein härtester Widersacher ist zudem nicht der Ukrainer, sondern ein unsichtbarer Feind in seinem Kopf - und die eigene Vergangenheit.

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Die Ballsaal-Tür des Brentford Hotels, in dem Wladimir Klitschko seinen Kontrahenten zur Pressekonferenz erwartet, öffnet sich mit einem Knall. Wer nun allerdings mit Tyson Fury gerechnet hat, der in den Saal stürmt, um seinen Gegner ohne Umschweife verbal zu attackieren, der irrt.

Statt des Briten stürzt ein muskelbepackter, maskierter Mann mit spitzen Ohren und einem wehenden, schwarzen Cape in den Raum. Ein kurzer Blick genügt: Es ist auch nicht Shannon Briggs, es ist Batman.

Nach einer Ehrenrunde nimmt der Superheld Gotham Citys in aller Seelenruhe Platz. Lange hält diese jedoch nicht an. Nur kurze Zeit später segelt Batman mit einem beherzten Sprung über den vor ihm stehenden Tisch, um seinen Erzfeind zu attackieren. Voller Inbrunst wirft er sich auf den Joker, der zuvor wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

In einem wilden Gerangel, bei dem unter anderem einige Gürtel Klitschkos auf dem Boden landen, gelingt es ihm schließlich seinen Widersacher auszuknocken. Nach getaner Arbeit erhebt sich der Beschützer Gothams, richtet sein Cape und wendet sich Klitschko zu, der das gesamte Schauspiel mit ungläubigem Blick verfolgt. Nach wüsten Drohungen in Richtung des Weltmeisters schnappt sich der Superheld den Joker und zerrt ihn aus dem Raum.

Flucht nach vorn

Was mit dem Schurken passierte, blieb zwar ohne Auflösung, konkrete Antworten gab es von Fury allerdings dann doch noch. Denn kaum war Batman verschwunden, tauchte dieser im Saal auf. Im feinen Zwirn und mit einem breiten Grinsen machte es sich der 27-Jährige bequem, nur um nahtlos dort weiterzumachen, wo sein maskierter Vorgänger aufgehört hatte.

"Es ist meine persönliche Mission, das Boxen von einer so langweiligen Person, wie du es bist, zu befreien", legte Fury los: "Wenn ich Dir zuhöre, schlafe ich ein. Du hast das Charisma einer Unterhose." Es waren Worte, die der Champion, der durch den US-Amerikaner Briggs bereits ganz andere Attacken gewohnt war, mit einem müden Lächeln quittierte.

Auch nach diesem Tag ließ Fury keine Gelegenheit aus, selbst über einen Kampf mit blanken Fäusten oder den Geruch Klitschkos, der "nur ein weiterer nackter Hintern unter der Dusche" sei, philosophierte er. Der Brite glaubt dabei an das, was er sagt - und sagt, was er denkt. Im Boxsport kann er sich ausleben und gleichzeitig vor Problemen entfliehen, die sich als Schatten über seinem Leben manifestiert haben.

Ein unsichtbarer Feind

Seinem größten Widersacher steht der in Manchester geborene Schwergewichtler mit Klitschko, dem er sogar ein Ständchen sang, nämlich nicht gegenüber. Auch andere Konkurrenten oder seine Kritiker sind verglichen mit Furys härtestem Gegner nur Randnotizen. Der Brite befindet sich in einem viel wichtigeren, schier endlos erscheinenden Duell - einem Kampf gegen sich selbst, ausgetragen in seinem Kopf.

"Es gibt einen Namen, für das, was ich habe", sagte Fury bereits vor vier Jahren gegenüber dem Guardian, ohne die Bezeichnung seiner Erkrankung jedoch zu nennen: "In der einen Minute bin ich glücklich, in der nächsten traurig. Einen Grund gibt es dafür nicht. Es hat sich nichts verändert. Es ist einfach so, dass ich mich von einem Moment auf den anderen am liebsten in mein Auto setzen und mit Vollgas in eine Mauer fahren möchte."

Er selbst könne nicht verstehen, "warum er sich so fühle", fuhr Fury fort. Der Brite, der seit Jahren an Depressionen leidet, glaubt auch heute nicht daran, dass sich sein Zustand in Zukunft bessern werde. Zwar arbeite er an seiner "mentalen Verfassung", dennoch "müsse er wohl lernen, mit ihr zu leben". Die Ursache hat er dabei in seiner Vergangenheit ausgemacht.

Schmerzhafte Erinnerungen

"Als ich ein Kind war, hatte ich eigentlich keine richtige Familie", erinnerte sich der 27-Jährige. Stattdessen hätten sich seine Mutter und sein Vater immer nur "angeschrien oder gegenseitig geschlagen". "Mein Vater hatte außerdem noch andere Frauen und auch Kinder mit ihnen", öffnete Fury weiter sein Inneres. Bereits in jungen Jahren trafen ihn ferner noch andere Nackenschläge. Ereignisse, die ihn noch deutlich weiter aus der Bahn warfen.

"Meine Mutter war 14 Mal schwanger", erzählte der Brite, der selbst drei Monate zu früh auf die Welt kam und nur knapp ein Pfund wog: "Es haben aber nur vier von uns überlebt. Eine kleine Schwester von mir lebte nur wenige Tage. Die Erinnerungen an die Beerdigung begleiten mich bis heute." Trotz allem würden er und seine drei Brüder nie über die Ereignisse sprechen, so Fury. Stattdessen werde "alles nur bei Seite geschoben" oder mit einem "Schlag im Spaß" abgetan. Eine verpasste Chance zur Aufarbeitung, die seinen Dämonen weiter Aufwind gibt.

Unterstützung erfährt Fury, der bereits früh die Schule verließ, seit über einer Dekade von seiner Frau Paris, die er mit 16 Jahren kennengelernt hatte und mit der er zwei gemeinsame Kinder hat.

Töchterchen Venezuela und Sohn Prince, der dem Tod aufgrund von Atmen- und Herzproblemen nur knapp entging und dreimal wiederbelebt werden musste, sind der große Stolz des Riesen, der seinen Schmerz dennoch bis heute nicht lindern kann. Als sich Besserung einzustellen begann, durchlebte er zudem ein weiteres Mal eine ihm so vertraute Hölle.

Déjà-vu der schrecklichen Art

Nachdem seine Frau schon Anfang 2014 gesundheitliche Probleme hatte, kam es im Verlauf des Jahres zu einer Fehlgeburt im fünften Monat. Es waren schreckliche Erinnerungen, die Fury von einem Tag auf den anderen eingeholt hatten und die ihn zurück in tiefe Depressionen stürzten. Auch sein Onkel und langjähriger Trainer Hughie lag nach Komplikationen in Folge einer Routineoperation im Koma und verstarb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Hätte es zu dieser Zeit den Sport nicht gegeben, wäre es möglich gewesen, dass "es ihn heute nicht mehr gebe", räumte Fury ein. Eine Alternative zum Boxen hat er allerdings nicht: "Ich habe keinerlei Bildung, keine Qualifikationen, kann kaum lesen oder richtig schreiben. Meine Grammatik ist grauenhaft - ich muss einfach Boxer sein", gestand er der Daily Mail.

"Wenn Tyson nicht kämpft, dann arbeitet er auch nicht. Er wirkt ohne das Boxen in dieser Welt ein bisschen verloren", sagte auch Paris dem Lancaster Guardian. Straffällig wie sein Vater John, der einem anderen Mann bei einer Schlägerei ein Auge ausgepresst hatte und zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, wurde er jedoch nie. Seinen Platz in der Welt abseits des Boxrings sucht der Mann von der Insel aber noch heute. Und das mit allen Mitteln.

Ein schockierendes Weltbild

So ist der 27-Jährige laut eigener Aussagen äußerst gläubig. Mit den Ansichten, die damit zuweilen einhergehen, sorgte er wenige Wochen vor dem Kampf gegen Klitschko für Unverständnis. "Wir leben in einer bösen Welt", sagte Fury: "Der Teufel ist im Moment sehr stark und ich glaube, dass das Ende nah ist. Ich denke, die Welt steht nur noch wenige Jahre vor ihrem endgültigen Ende."

Doch damit nicht genug, er äußerte auch detaillierte Gründe, warum der Weltuntergang nur eine Frage der Zeit sei: "Es gibt nur drei Dinge, die verwirklicht werden müssen, bis der Teufel nach Hause kommt: Homosexualität wird in einigen Ländern legalisiert - zudem Abtreibung und Pädophilie. Wer hätte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gedacht, dass die ersten beiden legalisiert werden?" Es war eine Aussage, die Fragen aufwarf und für Unverständnis sorgte.

Die Welle der Kritik ließ ihn kalt. "Das ist eine lustige Welt, in der wir leben - und eine böse. Die Leute können sagen: 'Oh, du bist gegen Abtreibung, du bist gegen Pädophilie, du bist gegen Homosexualität, du bist gegen was auch immer'", fuhr er fort: "Aber mein Glaube und meine Kultur basieren nun mal auf der Bibel. Diese wurde vor langer Zeit geschrieben und ich befolge, was in ihr geschrieben steht. Und wenn das Wort Gottes mir sagt, etwas ist falsch, dann ist es für mich falsch."

Verschwimmende Grenzen

Inwiefern der Brite, der zudem unlängst die Legalisierung von Dopingmitteln zur Verbesserung der Chancengleichheit forderte, seine Ansichten an die Anforderungen der sensationsorientieren Presse angepasst und somit absichtlich provoziert hat, um das Duell mit Klitschko zu promoten, lässt sich nicht final beurteilen. Mit Boxen hatten diese jedoch nichts mehr zu tun. Stattdessen gab er ein schockierendes Bild ab.

Fury ist ein Mann, der polarisiert - und dabei einen tieferen Einblick in sein Innerstes erlaubt, als es bei vielen Menschen der Fall ist. Der Auftritt als Batman könnte sinnbildlich und überraschend präzise seine innere Zerrissenheit dargestellt haben. Denn welche Rolle in seinem Kopf die Überhand hat, kann sich von einer Sekunde auf die andere ändern.

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