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Lionel Messis letzter Tanz bei der WM in Katar: Weinen kostet nichts

Von Lucas Bertellotti
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Die Anhänger Argentiniens sind die dominierende Fangruppe bei der WM in Katar: Sie sind Fußball-Botschafter in einem fernen und reichen Land und begleiten Lionel Messi an der Hand bei seinem letzten Tanz.

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Sie tragen eine Art argentinische Tunika mit hellblauem und weißem Muster auf jeder Seite und der Sonne auf der Brust. Ihre Köpfe sind im arabischen Stil bedeckt. Sie müssen zwischen 65 und 75 Jahre alt sein. Sie wirken entspannt. Es sind noch mehr als zweieinhalb Stunden bis zum Achtelfnalspiel Argentiniens gegen Australien bei dieser WM, doch diese argentinischen Fans befinden sich bereits im Innenraum des Ahmad-bin-Ali-Stadions.

Heute wird Messi sein 1000. Spiel als Profi bestreiten; an welches Spiel erinnern Sie sich am meisten?

"Das Finale der Copa América... das Tor war von Di María, aber... ich bin gerührt... wir kommen aus Rosario, dem Geburtsort von Messi, also... es ist eine besondere Zuneigung, die wir zu diesem Jungen haben. Er ist ein Junge, der so viel Güte besitzt... und außerdem ist er der beste Spieler der Welt... wie kann ich da nicht begeistert sein?"

Seine Stimme bricht, seine Kehle beginnt zu zittern. Eine Träne läuft ihm über die linke Wange. Er hält für ein paar Sekunden inne. Er entschuldigt sich, als ob die Reaktion nicht ganz richtig wäre.

Sicher, diese Träne könnte sich um die Träne eines besonders sensiblen Menschen handeln, den kurz vor einem wichtigen Spiel seiner Mannschaft die Emotionen übermannen. Aber man wird als Beobachter das Gefühl nicht los, dass die große Mehrheit der Argentinier, die in Doha sind, vor, während und nach den Spielen ein Meer von Emotionen erlebt, das manchmal zu einem Tsunami wird, unmöglich zu bändigen.

Argentinische Fans bei der WM 2022
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WM 2022: Fußballspiele werden zu Gottesdiensten

Neben den Mexikanern sind die die Fans aus Argentinien die dominierende Fangruppe bei diesem Turnier in einem Land ohne eigene Fußballtradition. Immer, wenn Argentinien, immer wenn Lionel Messi spielt, herrscht in Doha eine besondere Atmosphäre. Es gibt eine Energie, die elektrisiert, ein Gefühl der Brüderlichkeit, das bei anderen Turnieren nicht so offensichtlich war.

Vielleicht liegt es an der Entfernung. Katar ist eine Wüste, die mit Pflastersteinen und glänzenden Gebäuden bedeckt ist. Mit Bädern, deren Böden so glänzend sind, dass sie wie Spiegel aussehen. Voll mit Autos, die keinen Lärm machen und U-Bahnen, die immer pünktlich ankommen und nicht einmal Fahrer haben. Mit Menschen, die für diese WM geschuftet haben und sie weit weg von den Glitzervierteln auch zu ihrer gemacht haben. Die Einheimischen schätzen die Fans aus Argentinien. Sie sehen sie hüpfen. Sie sehen sie schreien. Sie sehen, wie sie sich in ihre Fahnen einhüllen. Sie sehen, wie sie lieben.

Die argentinischen Fans in Doha sind Botschafter eines Lebensstils. Die Art der Spieler auf dem Platz, den Ball zu lieben, spiegelt sich auch bei den Fans wider. Fußballspiele werden zu Demonstrationen, zu Gottesdiensten, ein Gebet nach dem anderen.

"Es gibt mir ein Gefühl des Herzens. Weil er mit dem Trikot spielt, mit seiner Seele. Schauen Sie, ich werde emotional, entschuldigen Sie, aber er ist ein Tier, er hat das argentinische Trikot eintätowiert", sagt ein Fan mit einem hellblau-weißen Hut.

WM2022, Lionel Messi
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Messi 2022: Die Welt steht still

Wie groß der Messi-Faktor auf das Spiel Argentiniens noch ist, ist schwer mit nackten Zahlen zu bemessen. Die Fans, die in Doha sind (und auch diejenigen, die in Argentinien, Indien, Bangladesch und dem Rest der Welt sind) scheinen sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass er hier seinen letzten Tanz absolviert. Es ist der Moment gekommen, in dem die Argentinier nichts mehr von ihm erwarten. Sie wollen es einfach nur genießen.

Auf der Tribüne schaut ein Fan, die 10 auf dem Rücken in den Himmel, hebt die Arme und macht den typischen Jubel des Kapitäns nach. Nach dem verschossenen Elfmeter im Spiel gegen Polen gab es sofortige Ovationen für Messi. Und hinterher war die einhellige Meinung: "Soll er doch so viele Elfmeter verschießen, wie er will, das ist doch egal."

Jedes Mal, wenn er am Ball ist, scheint die Welt stillzustehen. Das ganze Stadion scheint zu vibrieren. Messi nimmt sich mit seinen 35 Jahren Pausen während des Spiels, er scheint dann für ein paar Minuten nicht mehr auf dem Platz zu sein. Doch dann zieht er wieder das Tempo an und spielt ein paar Pässe, die das Spiel aus den Angeln heben können.

Dazu kommt: Er ist lauter als früher. Er schreit die Hymne, als wäre es die letzte, er umarmt seine Mannschaftskameraden fest, er spricht mit ihnen und er schaut beschämt zu Boden, wenn auf dem Spielfeld gerufen wird, dass "wir mit Leo Messi Weltmeister werden".

Lionel Messi, WM 2022
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WM 2022: Messi hat das Spiel vor sich

"Mir gefiel am Besten der Pass, den er Lautaro Martínez am Ende gab. Statt selbst aufs Tor zu schießen, will er, dass sein Teamkollege, der in diesem Turnier bisher nicht gut spielt, das Tor schießt. Leo ist ein echter Anführer", kommentiert einer der Jugendlichen, die Messis Jubel auf der Tribüne des Stadions nachahmten. Während Cristiano Ronaldo sogar um Tore streitet, die er mit seiner Haartolle vielleicht früher mal erzielt haben könnte, ist Messi mannschaftsdienlicher geworden und hat das Spielfeld jetzt oft vor sich.

Es ist ein Sturm der Leidenschaft, der nicht mehr aufhören will. Die Freude der Fans beim Verlassen des Stadions nach dem 2:1 gegen Australien und Messis erstem WM-Tor in einem K.o.-Spiel einer WM, war so groß, dass selbst die Sicherheitsbeamten, die sonst immer sehr hart und kompromisslos zu Werke gehen - eines der größten Ärgernisse dieser WM, die Umarmungen und Küsse der Fans lächelnd mit ihren Smartphones aufnahmen.

Die Argentinier in Doha sind gerührt vom Stolz, dazuzugehören. In ihrer Fantasie nehmen sie Messi an die Hand und begleiten ihn bei seinem Abschied. Sie bewässern die trockene und staubige Wüste mit ihren Tränen.

Der Autor Lucas Bertellotti ist Argentinier und Chefredakteur der spanischsprachigen GOAL-Editionen. Er ist bei der WM in Katar vor Ort.

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