Chelsea-Blogger David Pasztor im Interview: "Es hat sich angefühlt wie die Sommer 2003 und 2004"

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330 Millionen Euro im Winter, 611 in der gesamten Saison: Der FC Chelsea sprengte mit seiner Transferoffensive unter den neuen Eigentümern um Todd Boehly alle Rekorde. Wie kommt das eigentlich bei den eigenen Fans an? Im Interview mit SPOX und GOAL gibt David Pasztor vom Chelsea-Blog We Ain't Got No History Einblicke.

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Herr Pasztor, wie beurteilen Sie Chelseas gewaltige Transferoffensive?

David Pasztor: Als die neuen Eigentümer Roman Abramowitsch ablösten, haben wir vermutet, dass der Klub nicht mehr jedes Jahr unzählige Millionen für neue Spieler ausgeben kann. Abramovichs Mittel waren praktisch unbegrenzt und sein Engagement für den Verein unbestritten. Er hat so viel ausgegeben, wie es eben nötig war, um zu gewinnen. Dass die neuen Eigentümer so weitermachen, ist überraschend wie wunderbar. Es zeigt, dass es ihnen nicht nur um ihren finanziellen Gewinn geht. Dieses Winter-Transferfenster hat sich angefühlt wie die Sommer 2003 und 2004 (nach Abramovichs Ankunft, Anm. d. Red.), als Chelsea gefühlt jeden Tag einen neuen Spieler verpflichtet hat. Es ist aufregend zu beobachten, wie viel die neuen Eigentümer in den Klub investieren.

Haben Sie Angst, dass die hohen Ablösesummen und vor allem auch die langen Verträge der Neuzugänge dem Klub langfristig schaden könnten?

Pasztor: Auf jeden Fall. Schon in den vergangenen fünf, sechs Jahren hat Chelsea auf dem Transfermarkt viele Fehlentscheidungen getroffen. Obwohl Spieler wie Tiémoué Bakayoko, Danny Drinkwater, Davide Zappacosta, Ross Barkley und Romelu Lukaku nur Fünf-Jahres-Verträge bekamen, belasten sie den Kader - ganz zu schweigen von der Bilanz. Es gibt absolut keine Garantie, dass Spieler wie Enzo Fernández oder Mykhailo Mudryk ihre Ablösesummen und Gehälter rechtfertigen, selbst wenn wir die entsprechenden Summen über viele Jahre hinweg amortisieren können. Es gab viele Schlagzeilen darüber, dass Chelsea dieses Schlupfloch nutzt. Aber es gibt auch Gründe, warum die meisten anderen Vereine mit Neuzugängen keine Verpflichtungen über so lange Zeiträume eingehen wollen. Es könnte passieren, dass wir ein halbes Jahrzehnt - wenn nicht sogar noch länger - auf Spielern sitzen bleiben, die nicht überzeugen, aber nicht verkaufbar sind.

Todd Boehly ist das Gesicht einer US-amerikanischen Investorengruppe, die den FC Chelsea im Mai 2022 übernahm
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Waren all die Transfers wirklich nötig?

Pasztor: Die meisten schon. Wir haben Verstärkung im Mittelfeld und in der Abwehr gebraucht. Aber jetzt haben wir einen viel zu großen Kader. Vor allem, wenn die verletzten Spieler zurückkehren.

Über welche Transfers haben Sie sich persönlich besonders gefreut?

Pasztor: Enzo Fernández steht sicher ganz oben auf der Liste. Wir haben alle gesehen, wie gut er bei der Weltmeisterschaft gespielt hat. Die Ablösesumme ist zwar unverschämt hoch, aber hoffentlich wird er bei uns für eine lange Zeit genauso gut spielen. Die Ankunft von Benoît Badiashile, dem jungen Innenverteidiger aus Monaco, wurde weitaus weniger beachtet. Aber er hat in seinen ersten drei Spielen fantastische Leistungen gezeigt. Er könnte ein echtes Juwel für uns werden.

Von welchen Transfers sind Sie nicht überzeugt?

Pasztor: Ich denke, dass wir einen oder zwei Offensivspieler zu viel verpflichtet haben. Wahrscheinlich können wir sie brauchen, aber vielleicht nicht alle auf einmal.

Enzo Fernández wechselte am Deadline Day für 121 Millionen Euro von Benfica Lissabon zum FC Chelsea und unterschrieb einen Vertrag bis 2031.
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Die Investorengruppe um den US-Amerikaner Todd Boehly hat im Mai das Kommando bei Chelsea übernommen. Wie beurteilen Sie die bisherige Arbeit unabhängig von den Transfers?

Pasztor: Generell sind die neuen Eigentümer wunderbar. Einige ihrer Entscheidungen waren zwar willkürlich, aber an ihrem Engagement und ihrem Enthusiasmus gibt es keinen Zweifel. Sie haben jedes Versprechen eingehalten, das sie während des Bieterverfahrens gegeben haben. Das ist alles, was wir uns wünschen können. Wir sehen, wie ihre Pläne sowohl in Hinblick auf den Neuaufbau des Kaders als auch auf die Umstrukturierung des Klubs auf operativer Ebene umgesetzt werden. Wir sehen die Unterstützung für die Akademie und das Frauenteam. Aber die Ergebnisse auf dem Spielfeld waren so schlecht wie noch nie in den letzten drei Jahrzehnten. Wir wollen erfolgreichen Fußball sehen.

Glauben Sie, dass die Eigentümer genug Ahnung von Fußball haben - oder wenigstens die richtigen Berater?

Pasztor: Das ist eine knifflige Frage. Sie scheinen genug zu wissen, um sportliche und technische Direktoren mit den entsprechenden Lebensläufen zu ernennen (Laurence Stewart und Paul Winstanley, Anm. d. Red.). Solange sie ihnen zuhören, ist alles in Ordnung. In der Theorie sollten direkte Einmischungen der Eigentümer abnehmen, je mehr sich die Strukturen weiterentwickeln.

Der langjährige Besitzer Roman Abramovich musste den Klub im Zuge des Ukraine-Kriegs verkaufen. Bei den Fans war er stets beliebt, vermissen Sie ihn?

Pasztor: Diese Frage kann ich nicht für alle Fans beantworten. Ich persönlich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich ihn vermisse. Ich vermisse aber den vollständigen Fokus auf das Gewinnen. Unsere Ziele und Erfolgsmaßstäbe sind heutzutage etwas komplexer. Der Eigentümerwechsel hat die Situation um den Klub interessant und dramatisch gehalten. Seit 2003 gab es bei Chelsea keinen langweiligen Tag.

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Anfang September wurde Thomas Tuchel überraschend entlassen. Wie haben Sie diese Entscheidung aufgenommen?

Pasztor: Tuchels Entlassung war vielleicht die verwirrendste Entscheidung der neuen Eigentümer. Vor allem, weil sie direkt nach dem Sommer-Transferfenster erfolgt ist. Tuchel sollte eigentlich der Cheftrainer sein, um den wir die Zukunft aufbauen. Das hatte der Verein auch sehr deutlich gemacht. Unter anderem, indem er den ganzen Sommer damit verbracht hat, seine Wunschspieler zu verpflichten. Dann wurde er aus heiterem Himmel entlassen. Später stellte sich heraus, dass Tuchel hinter den Kulissen nicht mit den neuen Eigentümern zurechtkam. Das warf nur noch mehr Fragen darüber auf, warum er nicht schon früher entlassen worden war.

Unter Tuchels Nachfolger Graham Potter entwickelte sich die Mannschaft bisher nicht weiter. Aktuell rangiert Chelsea auf Platz neun, der Rückstand auf die Champions-League-Startplätze beträgt zehn Punkte.

Pasztor: Potter hat bisher leider noch nicht gezeigt, warum die Eigentümer so viel Vertrauen in ihn gesetzt haben und weiterhin setzen. Wir hoffen, dass er sich im Zuge des Kader-Neuaufbaus mit all diesen fantastischen jungen Spielern zu einem Weltklassetrainer entwickelt. Eigentlich sollten wir dem Prozess vertrauen. Aber bisher sehen wir nicht, was dieser Prozess genau ist - zumindest in Hinblick auf das Fußballerische. Das macht es sehr schwer, zu vertrauen.

Steht Potter bei den neuen Eigentümern eigentlich schon zur Disposition?

Pasztor: Potter genießt mehr Unterstützung vom Verein als jeder andere Chelsea-Trainer seit Menschengedenken. Daher ist zu hoffen, dass er am Ende die Kurve kriegt und sich unsere Ergebnisse verbessern. Diese Saison scheint ein kompletter Reinfall zu werden. Aber wir werden sicher bald Verbesserungen sehen, vor allem nachdem so viel für Transfers ausgegeben wurde.

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