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Warum Cristiano Ronaldo zum Tom Brady Portugals werden kann

Cristiano Ronaldo, Portugal
© getty

Cristiano Ronaldo will mit Portugal unbedingt zur WM. Es wäre nicht nur seine letzte Chance auf einen Titel in diesem Jahr, sondern auch die Möglichkeit, noch etwas Eigenwerbung für sich zu machen. Die neue Generation kann längst ohne ihn auskommen, doch Ronaldo kann nicht loslassen. Ein alter Vertrauter erinnert sich an eine NFL-Legende.

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Fernando Santos ist kein Mann der großen Worte. Eigentlich ist er ein Mann gar keiner Worte. Wenn er nicht muss, spricht der Portugiese nicht. Wenn der Nationaltrainer Portugals dann doch etwas sagt, hat es umso mehr Gewicht.

Als der 57-Jährige zuletzt gefragt wurde, ob er denn überlege, Cristiano Ronaldo auf die Bank zu setzen, hatte der Portugiese eine recht einfache Formel parat: "Ich glaube nicht, dass irgendeine Mannschaft auf der Welt besser spielen kann, wenn ihr bester Spieler nicht dabei ist."

Die Antwort hätte auch - genau in diesem Wortlaut - von Ronaldo selbst kommen können. Portugals Trainer und sein Kapitän leben nach wie vor mit diesem Selbstverständnis, dass Cristiano Ronaldo der Beste ist. Und wahrscheinlich stehen die beiden nicht allein da. Es hat ja tatsächlich was von Majestätsbeleidigung, wenn man ihn in Frage stellt.

Der Portugiese hat in der laufenden Saison 18 Tore in 33 Spielen geschossen und drei Vorlagen geliefert. Bei fast jedem anderen Profi der Welt würde man von einer sensationellen Saison sprechen. Bei Ronaldo spricht man von Krise.

Cristiano Ronaldo kann sein Niveau nicht halten

Es war klar, dass Ronaldo das Rennen gegen die Zeit nicht gewinnen wird. Es war klar, dass er mit 37 Jahren nicht ganz das Niveau halten wird, das ihn zu einem der besten Sportler der Geschichte machte. Und er konnte es auch nicht halten.

Es gibt sicherlich Schlimmeres auf der Welt, als bei Manchester United zu spielen, aber dass der Klub sportlich nicht mehr zum elitären Kreis der natürlichen Champions-League-Titelanwärter gehört (dort, wo sich Ronaldo sieht), ist bekannt.

Klar ist auch: Zum ersten Mal seit 17 Jahren wird Ronaldo eine Saison ohne Titel abschließen. Mit ManUnited ist er fern von allen Zielen, die er sich vor der Saison gesteckt hat. Die einzige Möglichkeit eines Titelgewinns ist die beim größten Event: der WM.

Wie sehr ihn dieser Zustand beschäftigt, sieht man Ronaldo derzeit ganz gut an. Dass er sich vor dem entscheidenden Spiel um die WM-Teilnahme gegen Nordmazedonien (20.45 Uhr im LIVETICKER) bereit erklärte, der Pressekonferenz beizuwohnen, hat eine Aussagekraft. Ronaldo will der Welt mitteilen, dass er da ist und nach wie vor an vorderster Front um große Ziele kämpft.

Cristiano Ronaldo will mit Lothar Matthäus gleichziehen

Und dass er gewillt ist, seine fünfte Weltmeisterschaft anzugehen. Nur drei Spielern, Lothar Matthäus sowie den Mexikanern Antonio Carbajal und Rafael Marquez, gelang bisher dieses Kunststück. Nun will Ronaldo nachziehen und richtet sich dafür ein.

Er bat darum, dass die Nationalhymne im Estadio do Dragao vor dem Anpfiff ohne Musik abgespielt wird, damit die Mannschaft und die Fans die Hymne gemeinsam singen. Der sonst immer so rationale Ronaldo wird auf seine alten Tage plötzlich emotional.

Er hat es schon immer verstanden, jede Möglichkeit zu nutzen, um Erfolg zu haben. Er ist heute noch ein Top-Athlet, der in Sachen Trainingseinstellung, Ernährung, Professionalität und Vorbereitung ein Vorzeigemodell ist. Gibt es neue Methoden, den Körper noch fitter zu halten, ist Ronaldo da. Gibt es neue Erkenntnisse in der Ernährung, Ronaldo hört zu.

Nun also die Emotion. Zum einen, um das Volk und auch die Kollegen hinter sich zu bringen, aber auch um daran zu erinnern, dass er immer noch ein großes Kaliber ist.

Als er gefragt wurde, ob er überlegt, seine Nationalmannschaftskarriere zu beenden, wenn es mit der WM-Quali nicht klappt, sagte er: "Nur ich werde über meine Zukunft entscheiden, niemand sonst. Wenn ich gerne weiterspielen will, spiele ich weiter. Wenn nicht, dann nicht." Und: "Ich bin der Boss. Punkt."

Portugal braucht Cristiano Ronaldo nicht mehr

Dass allein schon die Frage gestellt wurde, wurmte ihn. Das sah man ihm an. Ronaldo bleibt es nicht verborgen, dass man immer lauter darüber spricht, ob seine beiden Mannschaften Manchester United und Portugal ohne ihn nicht besser aufgehoben wären. Bei Manchester United versucht es Ralf Rangnick noch mit der bestmöglichen Rhetorik zu lösen, ohne Ronaldo zu kränken, Fernando Santos braucht nicht zu tricksen, wie man inzwischen weiß.

Aber gerade Letzterer hat inzwischen so viele Optionen, dass Fragen gestattet sind. Diogo Jota, Joao Felix, Otavio, Bruno Fernandes, Rafael Leao, Andre Silva und Co. Bis auf den Leipziger sind das alles Highspeed-Fußballer, die es jedem Gegner brutal schwermachen und sie spielen auch durch die Bank bei Topklubs, in denen sie gesetzt sind.

Portugal überrollte die Türkei in den ersten 20 Minuten des Playoff-Spiels regelrecht. Dass es da in der Frühphase nicht schon 2:0 oder 3:0 stand, verdankten die Türken dem Glück. Doch es waren Jota, Fernandes und Otavio, die die Musik spielten. Und nicht Ronaldo. Er reihte sich auch nicht in die Torschützenliste ein und fiel auch nicht als Vorlagengeber auf.

Das Schicksal des Fußballlandes Portugal ruht nicht mehr allein auf seinen Schultern. Portugal braucht keine CR7-One-Man-Show mehr, um Spiele zu gewinnen. Das war früher vielleicht zwar auch nicht immer so, aber inzwischen ist die Selecao so erwachsen geworden, dass sie ohne Papa Ronaldo gut kicken und gewinnen kann.

Gary Neville und der Vergleich mit Tom Brady

Seit 2014 hat Portugal ohne Ronaldo nicht mehr verloren. Und schon vor fast zwei Jahren starteten die ersten Diskussionen darüber, ob man ohne Ronaldo nicht besser ist. Es war nach einem 4:1 gegen Kroatien in der Nations League im September 2020. Für viele war es das beste Länderspiel unter Fernando Santos. Ronaldo war nicht dabei.

Es ist zum einen gut für Portugal, zu wissen, dass man gut für die Zukunft aufgestellt ist und keine Angst haben muss, dass man in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, wenn einer der besten Fußballer, die es je gab, irgendwann aufhört. Auf der anderen Seite bedarf es beim vom Erfolg getriebenen Ronaldo eines Eingeständnisses, dass es auch ohne ihn geht.

Dass er sich nach vielen Jahren als schillernder Stern damit schwertut, ist völlig legitim. Man muss ihm fast wünschen, dass er mit Portugal die WM erreicht, dort eine tolle Figur abgibt und dann würdevoll den Abgang schafft.

Wobei, wenn es nach Gary Neville geht, könnte Ronaldo auch die WM 2026 anpeilen. Dann wäre der Portugiese 41. "Ich würde mich nicht wundern, wenn er noch bis 40 spielt", sagt sein ehemaliger Teamkollege von Manchester United und vergleicht ihn mit Tom Brady.

Neville: "Wir haben Brady aus dem Ruhestand kommen sehen. Eines der großartigsten Dinge bei diesen Spielern ist die Langlebigkeit, es ist so wichtig für sie, dass sie länger weitermachen und immer noch auf höchstem Niveau spielen können."

Brady und Ronaldo. Der Vergleich ist vielleicht sogar ganz gut. Bevor Brady seinen Rücktritt vom Rücktritt erklärte, standen die Tampa Bay Buccaneers wohl kurz vor einem Neuaufbau mit frischen Gesichtern. Diesen müssen sie nun aufschieben. Ob die Portugiesen das eher hinbekommen?