WM

Frankreich zieht ins WM-Finale ein: Drecksack-Defensive siegt

Frankreich verteidigte in der Schlussphase gegen Belgien mit Mann und Maus.
© getty

Frankreich ist durch einen Halbfinalsieg gegen Belgien ins WM-Finale eingezogen. Die destruktive Spielweise der Equipe Tricolore in der Endphase sorgte für Unmut bei Fußball-Ästheten. Für Nationaltrainer Didier Deschamps ein altes Lied, die Kritik an seiner Taktik begleitet ihn seit Jahren. Doch der zweite Finaleinzug bei einem großen Turnier in Folge gibt der Drecksack-Defensive des Weltmeisters von 1998 Recht.

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Am Ende nehmen sich zwei Legenden des französischen Fußballs in den Arm. Zwei Weltmeister. Beinahe auf den Tag genau 20 Jahre ist es her, dass die beiden im Pariser Stade de France gemeinsam den ersten WM-Titel für Frankreich feierten.

Diesmal feiern Didier Deschamps und Thierry Henry nicht zusammen. Letzterer blickt geknickt drein, ist unterlegen und muss seinem Gegenüber schließlich gratulieren. Als Stürmertrainer von Belgien ist Henry an Frankreich gescheitert. An seinem damaligen Kapitän, dem heutigen Trainer der Equipe Tricolore.

Thierry Henry und Didier Deschamps: Zwei Ideen von Fußball

Henry gestikuliert. Die Finger geformt, als wolle er auf einer imaginären Taktiktafel einen Spielzug besprechen. Finaleinzug seines Heimatlandes hin oder her, in Henrys Augen steht eine tiefe Enttäuschung geschrieben.

Nicht nur das Team, das er als Co-Trainer betreut, hat gegen die Truppe von Deschamps verloren. Letztlich war es auch die Niederlage einer Herangehensweise an den Fußball. Eine Glaubensfrage.

Henry war Stürmer, Deschamps defensiver Mittelfeldspieler. Belgien stand im Laufe der WM für riskanten und begeisternden Offensivfußball, Frankreich dagegen für eine stabile Defensive und einen Fokus auf Umschaltspiel.

Belgien macht das Spiel, Frankreich spekuliert auf Konter

Ähnlich sah die Ausrichtung im Halbfinale aus. Belgien hatte den Ball und versuchte, das Spiel zu gestalten. Die Franzosen zogen sich über weite Strecken der Partie tief in die eigene Hälfte zurück und spekulierten auf Konter.

Allem Offensivpotential zum Trotz ist das der Fußball, für den Deschamps steht. Genau das ist der Grund, weshalb er in Frankreich seit Amtsantritt quasi durchgehend in der Kritik steht.

Auch während der WM hatten die biederen Auftritte in der Gruppenphase für Unmut gesorgt, die im Nichtangriffspakt beim letzten Gruppenspiel gegen Dänemark gipfelten. Mit Ausnahme des zeitweise furiosen Auftritts gegen Argentinien, so die weit verbreitete Meinung, machten die Franzosen Dienst nach Vorschrift. Sie könnten ja so viel spektakulärer spielen. Warum denn nicht wie Belgien? Die Voraussetzungen sind gegeben, mit Kylian Mbappe, Antoine Griezmann und Ousmane Dembele ein ähnliches Offensivfeuerwerk zu zünden, wie es Belgien mit Kevin de Bruyne, Romelu Lukaku und Eden Hazard tut.

Doch die Herangehensweise von Deschamps war eine andere, eine weniger risikobehaftete, ergebnisorientiertere.

Und so hätte sein erster Wechsel im Halbfinale nicht deschampsesker sein können: In der 85. Minute wechselte er mit Olivier Giroud seinen Mittelstürmer aus und brachte mit Steven N'Zonzi einen vierten defensiven Mittelfeldspieler. Vier Sechser verteidigten in den Schlussminuten also vor der "Ochsenabwehr" aus vier Innenverteidigern, die in dieser Zusammensetzung Erinnerungen an die deutsche Viererkette zu Beginn des WM-Turniers 2014 weckt. Allez Bollwerk.

Frankreich bot eine destruktive Verteidigungsschlacht

Das Personal passte zur Spielweise der Schlussphase. Frankreich bot eine destruktive Verteidigungsschlacht und drehte an der Uhr. Clever und beinahe durchgehend im Rahmen des Regelwerks. Durch Dribblings Richtung Eckfahne, bei Ballverlust direktes Pressing, durch Spielzerstörung. Aber auch durch Diskussionen und Theatralik. Es war ergebnisorientierter Drecksack-Fußball. In den sechs Minuten Nachspielzeit ließen die Franzosen gerade einmal eine Chance der Belgier zu. Der Aufschrei in den sozialen Medien war groß. Doch die Spielweise war erfolgreich.

So ganz haltbar ist der Vorwurf der reinen Defensive ohnehin nicht. Es war nur eben eine grundsätzlich andere Ausrichtung als die des Gegners. Freilich wollte Frankreich Belgien den Ball und damit die Spielgestaltung überlassen (36 zu 64 Prozent Ballbesitz). Doch die Verteidigung war so effektiv, dass die starke belgische Offensive gerade einmal auf neun Torschüsse kam, während das angeblich nur mauernde Frankreich 18 abgab. Die Equipe Tricolore spielte deutlich effizienter.

Frankreich gegen Belgien: Statistiken zum Spiel

StatistikFrankreichBelgien
Tore10
Torschüsse189
Torschüsse aufs Tor43
Torschüsse innerhalb des Strafraums116
Torschüsse außerhalb des Strafraums73
Ecken45
Fouls616
Abseits11
Zweikampfquote58,2 Prozent41,8 Prozent
Pässe345594
Ballbesitz36,3 Prozent63,7 Prozent

"Ich bin sehr stolz auf die Mentalität der Mannschaft", sagte Deschamps später erleichtert: "Es geht nicht immer nur darum, auf dem höchsten Niveau zu spielen und viele Tore zu erzielen. Es geht ums Gewinnen. Mit unserer mentalen Stärke können wir Berge versetzen und das ist uns bisher sehr gut gelungen."

Deschamps betont die Entwicklung der Mannschaft

Das Ergebnis gibt Deschamps Recht. Als erster französischer Trainer in der Verbandsgeschichte erreichte er nun das zweite Finale bei einem großen Turnier in Folge. Nach Franz Beckenbauer, Rudi Völler und Mario Zagallo ist er erst der vierte, der als Spieler und Trainer in einem WM-Finale steht. Vielleicht spielt Frankreich bieder, vielleicht für das eigene Potential manchmal auch zu defensiv, doch Frankreich steht eben im Endspiel. Punkt.

Deschamps hat seit seiner Amtsübernahme genau das aus seiner Mannschaft herausgeholt, was vielen talentierten französischen Mannschaften in der Vergangenheit abging: Er hat sie zu einer Einheit geformt, die einem Plan folgt und einen unbedingten Siegeswillen entwickelt.

Offensive gewinnt Spiele, Defensive gewinnt Titel

Deschamps legt Wert darauf, dass eben auch die Ausnahmekönner im Spiel gegen den Ball mitarbeiten. Während de Bruyne, Lukaku und Hazard bei Belgien den Gang nach hinten besonders gegen Brasilien und Frankreich häufig schleifen ließen, setzt Deschamps u.a. deswegen auf Giroud und Blaise Matuidi, weil diese große Defensivqualitäten mitbringen. Dafür opfert er bewusst eine größere offensive Durchschlagskraft, immerhin blieb Giroud trotz sieben Torschüssen gegen Belgien erneut torlos.

Die noch stärkere Orientierung am Ergebnis als an der Spielweise ist möglicherweise auch ein Lerneffekt aus der EM vor zwei Jahren. Damals ging Frankreich im eigenen Land als großer Favorit ins Finale gegen die biederen, rein am Ergebnis orientierten Portugiesen und zog den Kürzeren. Die Partie gegen Belgien wirkte beinahe wie eine Spiegelung mit vertauschten Rollen.

Frankreich spielt bei dieser WM nach dem Motto "Offensive gewinnt Spiele, Defensive gewinnt Titel". Womöglich war es das, was Deschamps seinem einstigen Weggefährten Henry nach der Partie während der innigen Umarmung ins Ohr flüsterte. Um ihm zu erklären, warum er im Kampf der Ideen vom Fußball die Oberhand behalten hatte...

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