Benjamin Kirsten im Interview: "Ich hatte die Schnauze voll vom harten Geschäft"

Benjamin Kirsten hechtet nach einem gegnerischen Elfmeter.
© imago

Benjamin Kirsten, viele Jahre Kult-Keeper bei Dynamo Dresden, hütet mittlerweile das Tor von Lokalrivale Lok Leipzig in der vierten Liga. Im Interview mit SPOX und Goal erzählt der Sohn von Ex-Nationalstürmer Ulf von seinem bitteren Abschied von Dynamo und der folgenden Odyssee, die ihn nach Holland und in die MLS führte.

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Außerdem spricht er über DDR-Style bei Lok, Zukunftspläne und das liebe Geld. Dazu: Was ihn vom "grummeligen" Vater Ulf unterscheidet, was ihn an der heutigen Medienwelt und den Schlagzeilen ärgert - und wieso er mit dem Videobeweis auf Kriegsfuß steht.

Herr Kirsten, das ist nicht Ihr erstes Interview mit SPOX und Goal. Vor einigen Jahren haben Sie mit uns über Manuel Neuers Wechsel zu Bayern München gesprochen, was nicht überall gut ankam. Passen Sie jetzt besser auf, was Sie sagen?

Benjamin Kirsten: Nein. Aber jeder Mensch ist anders, jeder interpretiert Aussagen anders. Es kann manchmal passieren, dass gewisse Dinge, beispielsweise das Neuer-Zitat von damals, aus dem Kontext gerissen werden. Die Sensationsgier hat in den letzten Jahren sehr zugenommen, weil der Markt natürlich größer wird.

Sie hatten sich gegen seinen Wechsel zu den Bayern ausgesprochen.

Kirsten: Wenn du ein Angebot von den Bayern hast, gehst du hin. Das ist normal. Ich persönlich fand es schade, weil ich Neuer nur auf Schalke sah und er für mich die Persönlichkeit im Verein war. Aber es war natürlich nachvollziehbar und jeder weiß, dass es der richtige Schritt war. Damals war ich noch bei Dynamo und hätte mir nicht vorstellen können, für einen anderen Verein zu spielen.

Wie hart war es denn, Ihren Herzensverein Dynamo Dresden 2015 zu verlassen?

Kirsten: Bei Dynamo ging der Weg bis dahin immer nur nach oben, es gab eigentlich keinen Tiefpunkt. Ich habe es schon oft gesagt: Ich hatte damals keinen Plan B, hatte keinen Gedanken daran verschwendet, woanders zu spielen. Das war ein harter Aufprall auf dem Boden der Realität. Ich bin froh, dass ich mein Umfeld hatte, sonst wäre es kein so "sanfter" harter Aufprall gewesen. Aber es hat mich auch ein Stück geprägt, mich in gewissen Dingen wachgerüttelt.

Sie mussten damals gehen, weil der neue Trainer Uwe Neuhaus nicht mehr mit Ihnen plante. Ihr Abschied schlug hohe Wellen.

Kirsten: Es gab auf mehrmaliges Nachfragen von meiner Seite keine Begründung des Trainers. Später hat sich herausgestellt, dass es am Ende eine politische Entscheidung war, die meinen Lebenstraum kaputtgemacht hat. Ohne einen wirklichen Grund, was ich sehr schade fand. Ich fände es gut, wenn man im heutigen Fußball mehr Charaktere im Verein hätte, die nicht nur die politische Ebene bespielen, sondern auch den Verein repräsentieren.

Sie waren im Anschluss einen Monat arbeitslos.

Kirsten: Ich hatte mich arbeitslos gemeldet, obwohl ich ein Vertragsangebot vorliegen und das eigentlich schon akzeptiert hatte. Das war mein Glück, weil du eben trotzdem deine Kosten decken musst. Ich bin dann ins Ausland gegangen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, für einen anderen deutschen Verein zu spielen. Die standen nicht Schlange, weil es auf dem Markt recht spät war. Als Torhüter im Mai: Katastrophe. Die Art und Weise meines Abschieds hat auch viele abgeschreckt, weil sie dachten: Wenn Dynamo diesen Schritt geht, dann muss irgendwas passiert sein. Aber das war es nicht. Holland war der richtige Schritt.

Ihr Engagement bei der NEC Nijmegen ging ebenfalls vorzeitig zu Ende. Warum?

Kirsten: Im Dezember wurde ich gekündigt, weil ich verletzt war und ein deutscher Arzt einen Meniskusriss feststellte, aber der holländische Arzt meinte, es wäre keiner. Bei der OP ist später herausgekommen, dass mein Außenmeniskus fast zu einem Drittel zerfetzt war.

Hat man in einem solchen Fall Ansprüche gegen den Verein?

Kirsten: Das Problem war: Ich hatte ein Angebot von Chicago Fire und wollte unbedingt nach Amerika. Aber das Trading-System dort ist ein sehr spezielles. Fire hat mich zuerst nicht verpflichten können und wollte, dass ich zuerst nach Washington gehe und sie mich über das Trading-System holen. Aber Washington hat eine Klausel nicht beachtet und plötzlich war der 1. Februar vorbei und ich galt als gekündigter Spieler und war damit nicht mehr arbeitslos. Somit durfte ich nicht wechseln und war fünf Monate vereinslos. Das ist eine katastrophale Lücke im System.

Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?

Kirsten: Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich spreche jetzt so locker darüber, aber das war eine harte Situation. In dieser Zeit hat mir der damalige Trainer Heiko Scholz von Lok Leipzig immer den Rücken gestärkt: "Bei Lok ist immer eine Türe für dich offen." Nachdem das zweite Mal Amerika im Sommer 2016 mit einer schweren Verletzung endete, sagte ich mir: Ich gehe zu Lok. Ich will zuhause bleiben, ich habe die Schnauze voll vom harten Geschäft, ich will wieder Spaß am Fußball haben.

Gab es Probleme mit den Fans? Sie kamen schließlich vom Erzrivalen.

Kirsten: Es wird immer Fans geben, denen das nicht gefällt. Aber ich habe hier einen sportlichen Auftrag, den versuche ich so gut wie möglich zu erfüllen. So konnte ich das ausblenden. Die Mannschaft selbst hat mich vom ersten Tag angenommen, deswegen fühle ich mich in diesem Team auch so wohl.

Sie sind mittlerweile 32. Schauen Sie zufrieden auf Ihre bisherigen Stationen zurück?

Kirsten: Ich bin unheimlich zufrieden. Ich stand bei jedem Verein im Tor und hatte gute Statistiken. Die sieben Spiele in der Eredivisie waren für mich eine wichtige Erfahrung, weil es eine Topliga ist. Die niederländische Liga wird häufig unterschätzt, aber sie ist attraktiv. Egal wie sich der Abschied am Ende abspielte, ich will die Zeit nicht missen. Einmal bin ich zum Spieler des Spiels gewählt worden. Als Deutscher in Holland ist das schon speziell, das hat mich stolz gemacht.

Und die Zeit in der MLS?

Kirsten: Darauf bin ich ebenfalls sehr stolz. Eigentlich denke ich täglich an diese Zeit zurück, weil sie mich so geprägt hat. Ich kann jedem nur empfehlen, ein oder zwei Jahre in den USA zu spielen. Vom Fußball her dritt- oder zweitklassig, auf keinen Fall Bundesliga. Aber vom Umfeld her überragend und unheimlich professionell. Gerade jungen Spielern in einer U19 von Schalke oder Leverkusen, die den Sprung nicht schaffen, würde ich raten: Geh rüber, studiere dort, werde gedraftet und du wirst eine Riesennummer, obwohl du hier vielleicht nur 3. Liga spielen würdest. Ich glaube, ich hätte den Schritt gemacht, wenn mir das jemand angeboten hätte.