Benjamin Kirsten im Interview: "Ich hatte die Schnauze voll vom harten Geschäft"

Benjamin Kirsten hechtet nach einem gegnerischen Elfmeter.
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Mit Ihrem Vater Ulf haben Sie eine Stiftung, mit der Sie gezielt Talente fördern wollen.

Kirsten: Wir haben zuletzt ein Stipendium an Eunsa Jeong vergeben, einen jungen südkoreanischen Spieler von Dynamo Dresden. Es ist unser Ziel, jährlich einen Sportler zu fördern, nicht nur im Fußball. Gerade Randsportarten können diese Stipendien nur schwer vergeben. Dazu kommt, dass der Osten in puncto Strukturen immer noch hinterherhinkt. Den Sportlern, die diesen Nachteil haben, wollen wir unter die Arme greifen.

Dafür versteigern Sie unter anderem Trikots, zuletzt etwa von Marco Reus. Wie kommen Sie eigentlich an solche Trikots? Gibt es ein Untergrund-Netzwerk? Eine geheime WhatsApp-Gruppe?

Kirsten: (lacht) Ich habe das Glück, dass mein Vater einen hervorragenden Ruf genießt. Reus, Max Kruse, Joshua Kimmich: Alle, die er bisher um ein Trikot gebeten hat, haben auch mitgemacht. Als wir Kimmichs Trikot bekamen, hat sich Niklas Süle spontan freiwillig gemeldet. Wir freuen uns, dass die Spieler ihre Trikots gern geben. Für sie ist es ein kleiner Aufwand, aber für den Fan, der ein getragenes und unterschriebenes Erinnerungsstück bekommt, ist es unbezahlbar.

Sie wirken sehr abgeklärt. Das kommt von Ihrem Vater, oder?

Kirsten: Wenn man mich mit meinem Papa vergleicht, sehen die meisten keine Parallelen. Mein Opa, der leider vor zwei Jahren verstorben ist, hat gesagt: Hätte dein Papa sich so artikulieren können wie du, hätte er wahrscheinlich mehr Geld verdient oder wäre in einer anderen Liga gelandet. Mein Vater war sehr medienscheu, er war grummelig. Man hat gemerkt, dass er das trainieren musste. Mir fällt es leichter.

Kirsten über sein bestes Spiel für Dynamo Dresden

Weil Sie reingewachsen sind in die heutige Medienwelt.

Kirsten: Ich war immer im Stadion, habe jedes Leverkusen-Spiel geguckt. Das war total cool, daran erinnere ich mich gerne. Ich fahre fast eine Stunde mit dem Auto zum Training, zusammen mit Mike Salewski, da fragt er mich aus und ich schwelge in Erinnerungen. Viele sagen, man solle nicht in der Vergangenheit leben. Aber gerade wenn man ein bisschen was erreicht hat, ist man schon stolz drauf und kann darüber gern nochmal nachdenken.

Dann schwelgen Sie doch eine Minute. Was sticht aus Ihrer Zeit bei Dynamo heraus?

Kirsten: (überlegt) Ich setze andere Schwerpunkte als die Fans. Wenn es etwa um mein bestes Spiel für Dynamo geht, sagen die meisten: Als ich die zwei Elfmeter gehalten habe. Ich sage, dass das eigentlich gar kein gutes Spiel von mir war, weil ich einen Freistoß in die Torwartecke bekam.

Und an welche Spiele denken Sie?

Kirsten: Die Spiele in der Relegation hatten eine ganz andere Wertigkeit. Wenn die Leute sagen: "Wow, ohne dich hätten wir es vielleicht nicht gepackt!" Ob das stimmt, sei mal dahingestellt. Aber ich freue mich immer, wenn die Menschen darauf zurückblicken. Das heißt, dass ich viel richtig gemacht habe.

Weil wir es gerade von den zwei Elfmetern hatten: Ist es für einen Keeper das Nonplusultra, einen Elfmeter zu halten?

Kirsten: Wir Torhüter haben bei Elfmetern nur eine Außenseiterchance. Für mich ist wichtiger: Was erreichst du damit? Es bringt mir nichts, vier Elfmeter zu halten, wenn ich viermal verliere. Wenn ein Torwart beim Stand von 0:2 in der 80. Minute einen Elfmeter hält und sich danach feiern lässt, muss ich sagen: "Herzlichen Glückwunsch. Sie haben verloren." Das Nonplusultra ist immer ein Zu-Null-Spiel, denn das heißt, dass ich meinen Job perfekt gelöst habe - und wir mindestens einen Punkt sicher haben.

Kirsten hält gegen den Chemnitzer FC Sachsenpokal einen Elfmeter.
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Kirsten hält gegen den Chemnitzer FC Sachsenpokal einen Elfmeter.

Und welche Aktion im Spiel gibt Ihnen als Torwart das beste Gefühl?

Kirsten: (überlegt). Für mich fühlt sich immer der Schlusspfiff am besten an. Ein gehaltener Elfer bringt dir im Spiel natürlich einen Push. Aber es ist nicht das Gleiche wie nach Abpfiff, wenn du runterfährst und alles von dir abfällt. Etwas ganz Besonderes war für mich die Auszeichnung zum besten Spieler der 2. Liga in der Saison 12/13 vom kicker. Aber auch das kam erst nach den Relegationsspielen. Vorher war mir das egal, weil ich wusste: Wenn wir absteigen, habe ich versagt.

Kirsten: "Journalisten erwarten, dass wir völlig emotionslos sind"

Wenn Sie nach dem Spiel runterfahren, müssen Sie noch durch die Mixed Zone. Nervt das eigentlich total?

Kirsten: Es gehört dazu. Wenn ich 0:4 verloren habe und es kommt eine richtig dumme Frage, werde ich auch mal ungehalten. Aber man merkt, wer es ernst meint, wer gut recherchiert und wer objektiv ist. Dass ein Trainer in Frage gestellt wird, wenn man zehn Spiele in Folge nicht gewinnt, ist klar, da braucht man beim Keeper eigentlich nicht mehr zu bohren. Trotzdem wird plötzlich eine riesige Story draus. Und ich sitze da und denke: Das ist ja völlig missverstanden worden. Dann hast du zwei Tage lang eine Unruhe in dir und vielleicht noch einen Trainer, der denkt, du wolltest ihm ans Bein pinkeln.

Ich muss zugeben, dass für uns die Mixed Zone in der Regel interessanter ist als die Pressekonferenz. Man hofft darauf, dass der Spieler etwas sagt, was er vielleicht später bereut.

Kirsten: Was ein Stefan Effenberg früher gesagt hat, das ginge heutzutage nicht mehr. Da fliegst du raus. Heute wird alles seziert, da werden bewusst Dinge rein interpretiert. Beispiel: Ein Spieler schlägt bei seiner Auswechslung nicht mit dem Trainer ab. Plötzlich ist das eine Rieseneskalation und unfassbar respektlos.

Für Sie als Spieler eine Non-Story?

Kirsten: (lacht auf) Vielleicht hast du gerade einfach so einen Kessel! Das heißt doch nicht, dass du respektlos gegenüber dem Trainer bist. Journalisten erwarten immer, dass wir völlig emotionslos sind, aber das ist völliger Quatsch. Ja, ich schlage auch die Zeitung auf, wenn ein Star einen anderen ohrfeigt. Aber man war nicht dabei. Der geht ja nicht einfach raus und verpasst dem anderen rechts und links eine. Zumindest nicht im Normalfall. (lacht)

Kirsten über den Videobeweis: "Würde ihn sofort abschaffen"

Ein letztes Thema zum Schluss: Sind Sie Fan des VAR?

Kirsten: Der Videobeweis funktioniert überhaupt nicht, ich würde ihn sofort abschaffen. Es gehört doch dazu, dass man auch mal darüber diskutiert, ob es Abseits war. Jetzt stehen alle da, während der Schiri es sich am Bildschirm anschaut - und dann entscheidet er vielleicht trotzdem falsch. Ich würde rückblickend über kein einziges Spiel meiner Karriere sagen: "Da war aber Abseits." Oder: "Der hat Hand gespielt." Es hat 100 Jahre ohne den Videobeweis geklappt.

Wenn ein Verein am letzten Spieltag aufgrund einer Fehlentscheidung absteigt, hängen viele Existenzen dran. Warum nicht richtig entscheiden, wenn wir es können?

Kirsten: Wenn ich am letzten Spieltag 18. bin und mich mit einem Sieg noch hätte retten können, steige aber nach einem kontroversen Videobeweis ab - dann habe ich es mir über die 33 Spieltage zuvor auch nicht verdient. Wenn mir ein Videobeweis-Tor am Ende fehlt, dann muss ich mich doch fragen: Warum muss das der VAR entscheiden?

Aber deswegen gibt es doch den Videobeweis: damit das Sportliche entscheidet. Man hatte 33 Spieltage Zeit - aber man muss eigentlich 34 Spieltage Zeit haben.

Kirsten: Wenn man es 33 Spieltage lang mit der eigenen Leistung nicht über den Strich schafft und dann ein Videobeweis-Tor entscheidet, muss ich mir selbst die Frage stellen: Ist es mir das wert? Ich bin auch einmal abgestiegen, aber es gibt nicht ein Spiel, bei dem ich gesagt habe: Hätten wir damals in dieser Situation den Videobeweis gehabt, dann hätten wir es gepackt. Mir fehlt der Videobeweis bis heute nicht, weil das Spiel so attraktiver ist - und menschlicher. Menschliche Entscheidungen machen das Leben aus.

Was würden Sie sonst noch ändern?

Kirsten: (überlegt) Nichts mehr. Mir gefällt es so.