Warum Andrea Belotti den FC Turin im Sommer verlassen sollte: Gefangener der 100-Millionen-Klausel

Seit Jahren der absolute Leistungsträger des FC Turin: Kapitän Andrea Belotti.
© imago images / Fabio Ferrari/ LaPresse

Andrea Belotti ist seit Jahren Leistungsträger, Kapitän und Aushängeschild des FC Turin. Seitdem er für die Granatroten aufläuft, trafen nur drei Stürmer häufiger in der Serie A. Die abgelaufene Spielzeit machte jedoch einmal mehr deutlich, dass sich "der Hahn", wie sie ihn in Italien nennen, all der Fußballromantik zum Trotz ein neues Heim suchen sollte.

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"Torino hat jetzt noch knapp zehn Minuten Zeit plus Nachspielzeit, um sich den Sieg zu holen", analysiert ein englischer TV-Kommentator ins Mikrofon. Zwischen dem FC Turin und US Sassuolo steht es an diesem 12. Mai 2019 in der 82. Minute 2:2.

Kurz bevor der Kommentator zu seiner Zwischen-Analyse ansetzte, hatte Simone Zaza zum Ausgleich getroffen. Weil Turin seit der 28. Minute in Überzahl spielt, schlussfolgert der Brite am Mikrofon weiter, dass wohl nur dem Klub aus dem Piemont noch der Siegtreffer gelingen könnte. "Ich wäre überrascht, wenn Sassuolo nochmaaaaaaal...".

Weiter kommt er mit seinem soeben erst gesponnenen Gedanken nicht mehr. Denn in diesem Moment steht Andrea Belotti senkrecht in der Luft, drischt eine Hereingabe von Rechtsverteidiger Lorenzo De Silvestri per Fallrückzieher ins Tor und versetzt so das Stadio Olimpico Grande Torino einmal mehr in völlige Ekstase.

"A wonder goal", entfährt es dem englischen TV-Kollegen. Und Belotti? Der dreht jubelnd ab, wedelt wie üblich mit der Hand vor der Stirn. Eine Geste, die ihm bereits in jungen Jahren seinen Spitznamen eingebracht hatte.

Kein seltener Anblick: Andrea Belotti ist in der Serie A bekannt dafür, auch mal Tore aus den unmöglichsten Positionen zu erzielen.
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Kein seltener Anblick: Andrea Belotti ist in der Serie A bekannt dafür, auch mal Tore aus den unmöglichsten Positionen zu erzielen.

Belotti in der Serie A: Nur Icardi, Higuain und Immobile besser

"Il Gallo", haben sie ihn in Italien getauft, "der Hahn". Weil er nach Toren immer mit seinen fünf Fingern einen Hahnenkamm vor der Stirn formt. Es war ein Witz eines Jugendfreundes, den erst Belotti und später dann die Torino-Fans dankend annahmen.

Seitdem er 2015 aus Palermo nach Turin kam, wurde Belotti allein in der Serie A schon 79-mal zum symbolischen Hahn. In diesem Zeitraum waren in Italiens Fußball-Oberhaus nur Mauro Icardi (80), Gonzalo Higuain (89) und Ciro Immobile (107) besser.

Kein Wunder also, dass in den vergangenen Jahren mehr als nur ein europäischer Top-Klub und das mal mehr und mal weniger offensiv sein Interesse am zuweilen akrobatischen und stets abschlussstarken Mittelstürmer bekundete, jedoch ohne Erfolg.

"Viele Klubs sind interessiert", klärte sein Berater Sergio Lancini bereits 2017 gegenüber SPOX und Goal auf. "Seine Klausel verlangt 100 Millionen Euro. Das ist alles, was ich im Moment sagen kann."

Andrea Belotti bei Torino: Darum sollte er wechseln

Jene Klausel, von der Lancini sprach, war im Herbst 2016 in Belottis neuen und bis 2021 verlängerten Vertrag verankert worden. Während eine Offerte eines italienischen Klubs in jeglicher Höhe von Torino abgelehnt werden kann, können ausländische Klubs die Klausel im dreistelligen Millionenbereich ziehen und Torino könnte nichts dagegen tun.

Letztendlich kann Belotti aber natürlich selbst entscheiden, ob er geht oder nicht. "Er könnte solch eine Offerte durchaus ablehnen und sich weigern, zu wechseln. In dem Fall würde ich ihn sicher belohnen und seinen Vertrag gewiss noch einmal verbessern", verriet Torino-Präsident Urbano Cairo damals.

Und in der Tat: Große Anstalten, den mittelmäßigen Klub zu verlassen, machte Belotti tatsächlich nicht. Im Gegenteil. Erst im vergangenen Jahr verlängerte er nochmals um ein Jahr bis 2022.

Damals befand sich die Granata mitten im Kampf um die Europa-League-Plätze und schaffte tatsächlich den Sprung in die dritte Qualifikationsrunde, woran Belotti mit 17 Toren einmal mehr maßgeblich Anteil hatte.

Torino scheiterte jedoch am späteren Viertelfinalisten Wolverhampton nach zwei knappen Niederlagen. Es sollte der Beginn der schwächsten Spielzeiten in der Ära Belottis werden. Am Ende hielten die Granatroten auf Platz 16 die Klasse mit Ach und Krach und dank 16 Treffern des italienischen Nationalspielers.

Serie A - Tabelle 2019/20: Torino entgeht Abstieg nur knapp

PlatzVereinSpieleToreDiff.Punkte
14.Udinese Calcio3837:51-1445
15.Sampdoria Genua3848:65-1742
16.FC Turin3846:68-2240
17.FC Genua3847:73-2639
18.Lecce3852:85-3335
19.Brescia Calcio3835:79-4425
20.SPAL3827:77-5020

Belotti beim FC Turin: Es droht eine Karriere im Mittelmaß

Die Entwicklungen Belottis und der Granata gehen also mittlerweile stark auseinander. Der 26-Jährige trifft konstant auf hohem Niveau und das immer mal wieder so technisch anspruchsvoll und sehenswert wie an jenem 12. Mai des vergangenen Jahres.

Torino hingegen wird trotz einer Transfer-Offensive in diesem Sommer - für insgesamt 36 Millionen Euro kamen Mergim Vojvoda, Simone Verdi, Karol Linetty und der Ex-Wolfsburger Ricardo Rodriguez - wohl auch künftig kaum etwas mit dem internationalen Geschäft zu tun haben.

Doch genau auf dieser Bühne müsste Belotti mit seiner Qualität stehen. Während jene Stürmer, die in den vergangenen fünf Jahren noch ein bisschen besser in der Serie A trafen als er, regelmäßig in der Champions- oder Europa League und um nationale und internationale Titel spielen, droht Belotti eine Karriere im Mittelmaß trotz nachgewiesener Klasse.

Für Fußballromantiker ein gefundenes Fressen. Es werden Erinnerungen wach an Granden wie Francesco Totti, Steven Gerrard oder Javier Zanetti, die für immer bei ihren Klubs blieben, ob in guten oder schlechten Zeiten. Aber auch diese drei gewannen Titel und spielten regelmäßig in der Champions League. Letztendlich wurden sie dort erst zu den Legenden, als die sie heute gelten.

Aus Torino-Sicht wäre es natürlich schön, wenn ein Klassestürmer trotz sportlich begrenzter Möglichkeiten des Klubs für immer bleibt. Doch es kräht kein Hahn nach eine titellosen, aber eindrucksvollen Karriere im Turiner Mittelmaß. Auch nicht "Il Gallo" höchstpersönlich.

Andrea Belotti: Das sind die Gerüchte

Das Problem ist: Der FC Turin beharrt in Person von Präsident Cairo auf die Ausstiegsklausel von Belotti - auch in Corona-Zeiten. "Ich verkaufe ihn nicht, warum sollte ich auch?", fragte der Vereinsboss bei Rai Radio rhetorisch.

"Er ist ein sehr guter Stürmer für die italienische Nationalmannschaft, deshalb halte ich ihn fest. Ich habe viel Geld für ihn abgelehnt und es überhaupt nicht bereut." Tatsächlich hatte Cairo in der Vergangenheit mehrmals aus dem Nähkästchen geplaudert, was die lange Interessentenliste für seinen Star betrifft.

Einmal erzählte er von einem Abendessen mit Real-Präsident Florentino Perez im Jahr 2017, das dazu geführt haben soll, dass die Königlichen sich Belotti als Partner für Karim Benzema genauer ansehen wollten. "Als er von Belotti, den er übrigens vorher nicht kannte, und seiner Klausel gehört hatte, spitzte er sofort die Ohren", erzählte Cairo.

Doch das 100-Millionen-Preisschild war Abschreckung genug. Damals sollen außerdem Milan und Chelsea interessiert gewesen sein. Erst im April befeuerte das Portal Defensa Central erneut die Gerüchte um ein Interesse vonseiten Real Madrids, denen Belotti sogar aktiv angeboten worden sei.

Angesichts der Schwärmereien und des klaren Statements von Cairo ein eher unwahrscheinlicher Vorgang. Etwas seriöser kam das daher, was die Gazzetta dello Sport im März publik machte. Dort hieß es, dass die SSC Neapel nach mehrmaligen Versuchen Belotti erneut nach Kampanien holen wolle.

Sogar ein Tauschgeschäft mit Andrea Petagna zuzüglich einer Ablöse habe Napoli angeboten. Aus dem Deal wurde bekanntlich nichts, die SSC holte anstelle von Belotti Mittelstürmer Victor Osimhen für kolportierte 70 Millionen Euro, um die Zentrale Stürmerposition zu besetzen. Seitdem ist es in der Gerüchteküche um Belotti ruhig geworden.

Andrea Belotti: Zu diesen Vereinen würde er passen

Dabei hätte das mit dem auch defensiv hart arbeitenden Belotti und Napoli durchaus passen können. Der Klub hätte fußballerisch viele Voraussetzungen für eine ertragreiche Zusammenarbeit erfüllt:

  • Napoli spielt regelmäßig im internationalen Geschäft.
  • SSC-Trainer Gennaro Gattuso ist ein emotionaler Leader, wie Belotti ihn braucht.
  • Belotti hätte technisch versierte Mitspieler um sich herum, die ihn in Abschlusssituationen bringen.
  • Das Spielsystem ist unter Gattuso auf Konter und Defensivarbeit ausgelegt, in das sich der technisch gute, antrittsschnelle, zweikampfstarke und bullige Mittelstürmer problemlos einfügen könnte.

Allerdings hätte Belotti, der fast im äußersten Norden des Landes in der Lombardei geboren ist, sich mit einem Wechsel nach Neapel ins gesellschaftspolitische Spannungsfeld zwischen dem Norden und Süden Italiens hineinbewegen müssen. Die Nähe zu seinem Heimatort Calcinate soll ein Hauptgrund dafür gewesen sein, dass Belotti überhaupt 2015 von Palermo zu Turin gewechselt war.

Geht es um die Nähe zur Heimat, wären nur die beiden Mailänder Klubs und Atalanta Bergamo noch näher dran als Turin. Dort sind die Offensiven jedoch aktuell noch bestens besetzt. Das Stürmer-Karussell in Italien schien noch einmal kräftig Fahrt aufzunehmen.

Juventus Turin arbeitete lange an einer Verpflichtung von Roma-Stürmer Edin Dzeko, entschied sich dann jedoch für Luis Suarez und holte am Ende wegen einer gescheiterten Einbürgerung des Uruguayers Alvaro Morata von Atletico Madrid. Ein Dzeko-Abschied hätte bei der Roma eine zu schließende Lücke im Sturmzentrum hinterlassen, die wohl Arkadiusz Milik von Napoli gefüllt hätte, was Belotti wiederum für die SSC interessant gemacht hätte. Milik soll jedoch auch in England bei Fulham, Newcastle und Tottenham Interesse geweckt haben.

Der Blick über die italienischen Grenzen hinaus lohnt sich in Corona-Zeiten, den sinkenden Transfersummen und der Hartnäckigkeit von Präsident Cairo für Belotti vermutlich vorerst nicht. Obwohl er mit seiner Abschlussstärke und seinem Fleiß wohl auch die Offensive eines englischen Klubs bereichern würde, bleibt er unterm Strich das, was er schon seit Jahren bei Torino ist: Ein Gefangener der 100-Millionen-Klausel.

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