Rockstar, Pionier, Ikone: Die tragische Geschichte von Torino-Legende Gigi Meroni

Von Maximilian Schmeckel
Gigi Meroni starb 1967.

Heute wäre Gigi Meroni 78 Jahre alt geworden. Als erster Rockstar Fußball-Italiens spaltete er das ganze Land, starb jung und tragisch: Gigi Meroni vom FC Turin ist bis heute ein Held - weil er so anders war.

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Dieser Artikel erschien zum ersten Mal am 2. April 2020.

Die Straßen von Turin wurden von Blumen gesäumt und eine gespenstisch leise voranschreitende Menschenmasse zog in Richtung des großen Friedhofs Cimitero Monumentale. Ein schweigendes Meer an Köpfen und in Schwarz gekleideten Körpern. Einige weinten still, während sie von tausenden Körpern umgeben einen schlichten Sarg zu seinem letzten Ausflug begleiteten. Eine ganze Stadt trauerte, zu schockiert, um das Unglück wirklich begreifen zu können, das sich wenige Tage zuvor ereignet hatte.

Denn im Sarg lag der Held Tausender, Gigi Meroni, Superstar des AC Turin. Mit nur 24 Jahren war er bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. 50 Meter hatte ihn ein Wagen mitgeschleift, der ihn erfasst hatte, als der Edeltechniker mit einem Mitspieler eine Straße überqueren wollte. Turin hatte nicht nur einen begnadeten Fußballer verloren, sondern seinen prominentesten Sohn, der so vieles war: Revoluzzer, Pionier, Lebemann, Künstler, Rockstar. Eine Ikone, schon in so jungen Jahren.

Entdeckt von Priestern

1943 im norditalienischen Como, unweit der Schweizer Grenze geboren, wurde der junge Meroni von fußballbegeisterten Priestern entdeckt. Ausgerechnet, sollte er doch sein Leben lang in Konflikt mit der Kirche und den katholischen Oberen des damals noch erzkonservativen Italien liegen. Sie entdeckten das Talent des Jungen in der Kirchenmannschaft Libertas San Bartolomeo - und förderten ihn. Schließlich gab es damals noch kein breites Profitum. Meroni arbeitete wie seine Geschwister in der Schneiderei seiner Mutter, die früh Witwe geworden war. Schon damals, in der heimischen kleinen Arbeitsstätte, wurde seine Liebe für Design geweckt. Er entwarf Stoffmuster für Krawatten.

Mit 17 schloss er sich dem Zweitligisten Como Calcio an, wechselte mit 19 zu Genua in die Serie A. Alle erkannten sein großes Talent, seine technische Finesse, seine Kreativität. Er spielte unkonventionell, aber elegant. Er spielte zarte Pässe und dribbelte sich mit einer Leichtigkeit zwischen grätschenden Beinen hindurch, die ihm schon bald den Spitznamen "La farfalla granata" einbrachte - der granatrote Schmetterling. Weil sein Spiel so leicht aussah, weil er über den Rasen zu schweben schien.

Liebling und Feindbild gleichermaßen

Als er 21 war, bot Torino 300 Millionen Lire für Meroni, umgerechnet über 150.000 Euro - damals eine unfassbare Summe, die sich jedoch schnell bezahlt machte. Denn Meroni wurde zum Liebling der Massen. Er versetzte die Tifosi in Verzückung. Gleichzeitig aber wurde er landesweit zum Feindbild. Zum gehassten Antityp der christlichen Wertegesellschaft.

Es fing bereits bei seinem Äußeren an. Er trug die Haare, anders als der Großteil der Männer, lang. So wie George Harrison, der sich mit den Beatles anschickte, weltweit Vater-Sohn-Konflikte zu initiieren, und der sein großes Vorbild war. Meroni bewunderte die Musik der Liverpooler, ihren Lebensstil, den auf den Beatniks fußenden Rock'n'Roll. Er trug Schlaghosen, hatte einen Pilzkopf, kombinierte gewagte Kleidungsstücke, trug Sonnenbrillen. Er fuhr einen Oldtimer, dessen Innenleben er selbst entworfen hatte. Er hatte einen Chauffeur und es kam vor, dass er in einem gestreiften Anzug ausstieg, und ein Huhn an der Leine spazieren führte.

War sein Äußeres nicht bereits genug Anlass, ihn zu hassen, besorgten private Eskapaden den Rest. Er lebte in wilder Ehe mit Christina Uderstedt. Die blonde Schönheit war bereits verheiratet, als sie, wenige Wochen nach der Hochzeit, zu Meroni zog. Ein Sakrileg! Vier Jahre lang sollte es dauern, bis die Ehe annulliert wurde, und Meroni und Uderstedt endlich kirchlich als Paar akzeptiert wurden. Bis dahin schrieb die konservative Journaille bissige Artikel gegen Meroni, Politiker und Sport-Größen äußerten sich abfällig.

Ausgeschlossen, weil er lange Haare hatte

Und obwohl die Fans des Toro ihn vergötterten, ihn für einen Künstler hielten, einen Erlöser, schloss sich der Rest von Fußball-Italien der Ablehnung nahtlos an. So durfte er überhaupt nur in der Nationalmannschaft debütieren, weil er sich die Haare geschnitten hatte - und auch das nur im B-Team. Zwei Jahre später sollte er als einer der besten Spieler der Serie A dann für das A-Team debütieren. Weil er sich dieses Mal aber weigerte, seine Haare erneut zu kürzen, wurde ihm das Spiel versagt. Er lief nur sechsmal für die Squadra Azzurra auf, schoss magere zwei Tore.

Dass er bei der WM 1966 überhaupt dabei war, verdankte er nur dem Umstand, dass er so gut war. Und dennoch saß er beim blamablen Aus gegen Nordkorea auf der Bank. Zum Feindbild der Presse wurde er dennoch gemacht. Mit Verrätern an Vaterland und Nationalstolz wie Meroni sei es kein Wunder, dass man gegen Amateure wie Nordkorea ausscheiden würde. Viele hielten ihn für eine Schande, es gab Gerüchte, er sei schwul. Aus heutiger Sicht ist der Hass schockierend, der ihm regelmäßig entgegen schlug.

Meroni in jeder Hinsicht ein Künstler

Ganz anders bei seiner großen Liebe, dem Toro. Dort war mit Nereo Rocco ein Disziplin-Fanatiker Trainer. Und dennoch wurde Meroni zu seinem Liebling, zum Zentrum seines Teams. Denn anders als viele der Spieler mit Bürstenschnitt und "normalem" Eheleben rauchte er nicht, trank er nicht und kam er nie zu spät. In seiner gesamten Karriere flog er nie vom Platz. Und Rocco war der Auffassung, dass man einen Spieler wie Meroni von seinen taktischen Pflichten entbinden müsse - ein Schachzug, der voll aufging. Meroni brillierte als Außenstürmer, als verkappter Spielmacher. Er war es, der die Serie des legendären Inter-Teams von Helenio Herrera beendete. Er ließ Giacinto Facchetti, damals einer der besten Verteidiger der Welt, leichtfüßig stehen und lupfte den Ball locker-leicht ins Tor. Ein Kunstwerk von einem Treffer!

Meroni war Künstler. Auf dem Platz und auch daneben. Er malte. Fantasievolle Gemälde, Natur, helle Farben. Er sei von Natur aus Künstler, ließ er die Menschen wissen. Ausstellungen oder kommerziellen Nutzen seines Schaffens lehnte er aber ab. Die Leute würden seine Werke ja doch nur kaufen, weil er ein Fußballstar sei. Und doch war er viel mehr als nur das. Er war einer, der das ganze Land spaltete.

Beinahe-Aufstand und Unfall

Als Lokalrivale Juventus die Mega-Summe von sieben Millionen Lire für ihn bot, führte das fast zu einem Volksaufstand. Die Toro-Fans, die für Fiat-Boss Gianni Agnelli arbeiteten, drohten mit einem Boykott, viele Juve-Fans protestierten dagegen entschieden gegen den Wechsel des skandalösen Meroni. Also blieb er und flog weiter im dunkelroten Trikot über den Platz. Bis zu jenem Tag, der über eine ganze Stadt einen bleischweren Schleier der Trauer legte.

Am 15. Oktober 1967 feierte Torino einen 4:2-Sieg in der Liga. Spätabends wollte Meroni mit Mitspieler Fabrizio Poletti eine Straße überqueren, als ein Auto heran raste. Er wich zurück, wurde von einem Auto aus der Gegenrichtung erfasst und 50 Meter mitgeschleift. Poletti überlebte verletzt. Am nächsten Tag wurde die Meldung publik, dass Meroni im Alter von 24 Jahren gestorben sei.

Meroni bis heute unvergessen

Der Unfallfahrer, in seiner Tragik kaum zu überbieten, war glühender Fan Meronis, kleidete sich wie er und trug die gleiche Frisur. Später wurde der damals 19-Jährige Attilio Romero gar Präsident Torinos - und führte den Klub in die Pleite. "Er hat den Toro ein zweites Mal getötet", urteilten die Fans, die ihren Helden bis heute nicht vergessen haben.

40 Jahre nachdem 20.000 Menschen um Gigi Meroni trauerten, wurde zu seinen Ehren ein Monument in Turin errichtet. Um dem Mann zu gedenken, der so vieles war. Der tanzte wie ein Schmetterling. Der nie einen Titel gewann. Und der doch als einer der besten Spieler Italiens gilt. Und als James Dean für eine ganze Stadt. Als geliebter Held, der viel zu früh auf tragische Weise aus dem Leben gerissen wurde.

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