Jerome Boateng im Interview: "Meinen Abschied vom FC Bayern habe ich mir anders vorgestellt"

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Schauen Sie sich noch Bayern-Spiele an?

Boateng: Klar, ich bin immer noch ein großer Bayern-Fan und schaue mir, wenn möglich, jedes Spiel an. Die Saison läuft, bis auf das Aus im Pokal, soweit gut. Man sieht auch eine Handschrift des neuen Trainers. Sie spielen weiterhin attraktiven Fußball und es macht Spaß, zuzuschauen. Aber beim FC Bayern geht es am Ende darum, möglichst viele Titel zu gewinnen. Meisterschaft, Pokal - das ist eh klar. Aber auch die Champions League. Da bin ich mal gespannt, wie die Saison verläuft und wie sich die Mannschaft so schlägt, wenn es in die K.o.-Phase geht.

Nicht mehr wegzudenken ist mittlerweile Leroy Sane. Wie bewerten Sie seine Entwicklung unter Julian Nagelsmann?

Boateng: Es freut mich unheimlich für Leroy, dass es bei ihm so gut läuft. Er ist ein super Typ und es ist für ihn einfach wichtig, dass er sich wohl fühlt und diese Lockerheit hat. Die hat ihm in seiner ersten Saison vielleicht ein bisschen gefehlt, da war er etwas verkrampft. Aber man darf auch nicht vergessen, dass er da aus einer langen Verletzung zurückkam.

Inwieweit hat seine aufsteigende Form mit seinem Positionswechsel zu tun? Während er in seiner ersten Saison noch auf dem rechten Flügel klebte, kommt er unter Nagelsmann jetzt mehr in den Halbräumen zum Einsatz.

Boateng: Ich denke nicht, dass das einen so großen Unterschied macht. Er hat auch auf dem rechten Flügel gute Leistungen gezeigt, ebenso wie auf dem linken Flügel und eben jetzt in den Halbräumen. Er kann auf vielen Positionen spielen. Noch mal: Ihm hat aus meiner Sicht nur diese Lockerheit gefehlt. Er musste ankommen und das ist ihm jetzt endgültig gelungen. Leroy wird dem FC Bayern noch viel Freude bereiten. Ich hoffe, dass es so für ihn weitergeht und er weiterhin besser wird. Das Potenzial dazu hat er.

Wichtig für den FC Bayern ist auch Joshua Kimmich. Zuletzt wurde aber mehr über die Privatperson als über den Fußballer Kimmich gesprochen. Wie beurteilen Sie die Impfdiskussion um Ihren Ex-Mitspieler?

Boateng: Ich möchte das alles gar nicht bewerten, bin mir aber sicher, dass Jo gut damit umgehen kann. Wenn er zurückkommt, wird er sofort wieder ein wichtiger Spieler sein, ein Führungsspieler mit Weltklasse-Qualitäten. Und dann geht es hoffentlich wieder bergauf für ihn und alle sprechen wieder über den Fußballer Kimmich.

Kaum Weltmeister beim Löw-Abschied: Boateng "überrascht"

Ein weiteres Thema, das zuletzt hohe Wellen schlug, war die Verabschiedung von Joachim Löw vor dem Länderspiel gegen Liechtenstein in Wolfsburg. Sie waren als einer von wenigen Weltmeistern vor Ort - allerdings nicht pünktlich. Es heißt, Sie hätten im Stau gestanden.

Boateng: Ich habe zwei Stunden im Flieger in Lyon gesessen, bin dort aber leider nicht weggekommen. Dadurch bin ich erst 15 Minuten nach Anpfiff im Stadion gewesen. Aber es war mir wichtig, dass ich Jogi noch gesehen habe. Ich wollte ihm mit meinem Besuch zeigen, dankbar für all das zu sein, was wir zusammen erlebt haben. Wir sind Weltmeister geworden, haben unter ihm viele tolle Turniere gespielt. Das sind Erinnerungen, die für immer bleiben. Deshalb war es wichtig für mich, nach Wolfsburg zu reisen. Verspätung hin oder her. Das hat so ein Trainer echt verdient.

Einige Ihrer damaligen Mannschaftskollegen hielten es nicht für nötig, den Weg nach Wolfsburg auf sich zu nehmen. Wie stehen Sie dazu?

Boateng: Insgesamt hätte man vielleicht einen schöneren Rahmen finden können. Ich war ehrlich gesagt selbst überrascht, dass nur so wenige Mitspieler von damals da waren. Für mich stand jedenfalls fest, dass ich mir das nicht entgehen lassen möchte. Es war schön, auch ehemalige Mannschaftskollegen wiederzutreffen und über alte Zeiten zu sprechen.

Kurios, dass ausgerechnet Sie diesen Weg auf sich nahmen - derjenige, der im Gegensatz zu Thomas Müller und Mats Hummels keine zweite Chance von Löw nach seiner Ausbootung bekam.

Boateng: Ich bin nicht nachtragend. Im Fußball ist es leider manchmal so, dass Entscheidungen fallen, die man schwer nachvollziehen kann. Aber damit muss man fertig werden. Ich habe großen Respekt vor Jogi Löw und seiner Leistung als Bundestrainer.

Boateng über EM-Aus: "Habe es selbst nicht verstanden"

Trotzdem muss es sicher hart für Sie gewesen sein, als Löw den EM-Kader bekanntgab und Ihr Name fehlte.

Boateng: Ich habe es selbst nicht verstanden und finde, dass ich eine Nominierung nach der Saison mit dem FC Bayern absolut verdient gehabt hätte. Ich glaube, einige haben das ähnlich gesehen. Schade, aber ich kann es nicht ändern.

Auch Flick sagte nach Löws Kader-Nominierung, er könne die Entscheidung gegen Sie nicht nachvollziehen. Jetzt ist Flick Bundestrainer. Wie lautet die Absprache mit ihm? Ist ein Comeback möglich?

Boateng: Wir haben miteinander gesprochen. Wichtig ist für mich erst mal, gute Leistungen für Lyon zu bringen. Man darf nicht vergessen, dass ich keine Vorbereitung hatte und auch zu Beginn der Saison nicht jedes Spiel über 90 Minuten machen konnte. Jetzt geht's mir gut, ich bin fit. Es gehört natürlich auch dazu, dass ich mit meiner Mannschaft erfolgreich bin, und das ist derzeit nicht unbedingt der Fall. Ich konzentriere mich bei diesen Diskussionen auf das, was ich sportlich selbst beeinflussen kann, alles andere kommt dann von selbst, wenn es sein soll.

Welchen Innenverteidiger würden Sie aus dem aktuellen DFB-Kader besonders hervorheben?

Boateng: Toni Rüdiger. Wir sind gut befreundet und unterhalten uns oft. Ich freue mich riesig für ihn, dass er sich bei Chelsea so gut entwickelt hat. Wenn man sich in Erinnerung ruft, wo er vor einem Jahr war. Mal Bank, mal Tribüne und jetzt ist er absolut gesetzt und spielt auf Weltklasse-Niveau, weil er an sich geglaubt hat und geduldig geblieben ist. Für mich ist er aktuell der beste deutsche Verteidiger - und definitiv unter den Top 5 auf seiner Position in Europa.

Für Jerome Boateng ist Antonio Rüdiger (l.) derzeit der beste deutsche Abwehrspieler.
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Für Jerome Boateng ist Antonio Rüdiger (l.) derzeit der beste deutsche Abwehrspieler.

DFB-Comeback unter Flick? Boateng hofft weiter

Deshalb steht Rüdiger auch bei vielen Topklubs hoch im Kurs. Sein Vertrag bei Chelsea läuft im kommenden Sommer aus. Was raten Sie ihm?

Boateng: Ich muss ihm keinen Ratschlag geben, er ist alt genug und wird wissen, was das Beste für ihn ist. Ich wünsche ihm bei seiner Entscheidung einen klaren Kopf, den wird er aber haben.

Ein Innenverteidiger-Pärchen Rüdiger-Boateng klingt nicht schlecht. Würde sich mit einem DFB-Comeback und einer letzten WM-Teilnahme noch einmal ein Traum für Sie erfüllen?

Boateng: Bei einer WM für das eigene Land zu spielen, ist für jeden Fußballer das Größte. Für mich wäre es schön, noch einmal den Adler auf der Brust zu tragen. Aber eine WM-Nominierung ist kein Wunschkonzert. Ich habe schon eine WM gewonnen und bin stolz auf das, was ich mit der Nationalmannschaft erreicht habe. Der DFB hat sich in den vergangenen Jahren ja auch bewusst dafür entschieden, auf jüngere Spieler zu setzen. Das ist ganz normal und damit habe ich überhaupt kein Problem. Ich war auch mal jünger und musste mich gegen Ältere durchsetzen. Das ist der Lauf der Dinge. Ich freue mich, wenn die Nationalmannschaft erfolgreich ist, das ist das Wichtigste, und Hansi ist ohne Zweifel der beste Trainer dafür. Sollte er mich anrufen und mir eine Chance geben, wäre ich aber natürlich sehr glücklich.

Wie sehen Sie Ihre Zukunft auf Vereinsebene? Ihr Vertrag bei Olympique Lyon läuft noch bis 2023, in der Vergangenheit gab es immer wieder Spekulationen um einen Wechsel in die USA.

Boateng: Ich lebe im Hier und Jetzt. Ich möchte dem Verein helfen, die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Mein Fokus liegt jetzt voll und ganz auf Lyon.

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