Die tragische Karriere des ehemaligen Ajax-Hoffnungsträgers Ricardo Kishna: Aus der Zukunft in die Hölle

Im September 2017 riss sich Ricardo Kishna bei einem Spiel gegen seinen Ex-Klub Ajax Amsterdam das Kreuzband - bis zu seinem Comeback vergingen über drei Jahre.
© imago images

Ricardo Kishna galt einst als größter Hoffnungsträger von Ajax Amsterdam. Doch dann ging so ziemlich alles schief, was schiefgehen kann. Heute ist er 27 Jahre alt und vereinslos.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Ricardo Kishna entstammt der Zukunft. Oder auf niederländisch "De Toekomst", wie die berühmte Nachwuchs-Akademie von Ajax Amsterdam genannt wird. Etliche Fußball-Legenden starteten hier ihre Weltkarrieren, Kishna gelang 2014 der Sprung von der Zukunft zu den Profis. 19 war er damals, er galt bei Ajax als größter Hoffnungsträger seiner Zeit.

Ein sagenhaft begabter Linksaußen. Trickreich, blitzschnell, kreativ, auch torgefährlich. Selbstverständlich Junioren-Nationalspieler. "Er war der talentierteste Spieler, mit dem ich je zusammengespielt habe", sagt Union Berlins Sheraldo Becker zu SPOX und GOAL, die beiden kennen sich aus dem Ajax-Nachwuchs. "Er war wie Di Maria mit der Technik von Neymar und außerdem richtig schnell."

Mittlerweile ist Kishna 27 Jahre alt. So berühmt wie Angel di Maria oder Neymar ist er aber nicht. Dafür hatte er viel, viel zu viel Pech in seiner bisherigen Karriere. Pech mit Entscheidungen, Pech mit seinem Körper, Pech mit seinem Kopf. Operationen, Depressionen. Aus der Zukunft in die Hölle. Zuletzt spielte Kishna beim niederländischen Zweitligisten ADO Den Haag, aktuell ist er vereinslos.

Ricardo Kishna: Durchbruch bei Ajax, Wechsel zu Lazio

Dabei lief zunächst alles nach Plan. Bei seinem Ligadebüt für Ajax traf Kishna direkt, in seiner ersten vollen Saison bei den Profis 2014/15 avancierte er zum Stammspieler. Trainer Frank de Boer förderte ihn zunächst zwar, doch bald zeigte sich: Zwischenmenschlich passen der spätere Bondscoach und der durchaus streitbare Jungspund nicht zusammen.

Weil sich Kishna bei einem Europa-League-Spiel angeblich zu lasch aufwärmte, suspendierte ihn de Boer. "Wenn das tatsächlich der Grund ist: lächerlich", sagte sein damaliger Berater, der mittlerweile verstorbene Mino Raiola. Kishna selbst vermutete, dass "Frank de Boer Probleme mit Spielern hat, die nicht in sein Idealbild vom perfekten Schwiegersohn passen".

Die Meinung in den Niederlanden über Kishna drehte sich langsam, aus einem Hoffnungsträger wurde ein Problemkind. "Dass ich so negativ gesehen werde, hat sicher auch mit mir selbst zu tun", stellte Kishna reflektiert fest. "Aber wo sich zwei streiten, sind zwei schuld." Kishna ließ den Streit hinter sich und wechselte 2015 für verhältnismäßig läppische drei Millionen Euro zu Lazio Rom.

In seiner Heimat kam die vermeintliche Flucht nicht gut an. "Ich hatte schon damit gerechnet, dass ich kritisiert werden würde", sagte Kishna. "Aber dass meine Wahl so viele negative Reaktionen hervorrufen würde, hat mich doch überrascht."

Ricardo Kishna galt einst als eines der größten Talente von Ajax Amsterdam.
© imago images
Ricardo Kishna galt einst als eines der größten Talente von Ajax Amsterdam.

Ricardo Kishna bei Lazio: Zwei Tore, mehr Verletzungen

Nach der Kritik war vor der Kritik, die nächste folgte für seine Rückennummern-Wahl bei Lazio: 88. In rechtsextremen Kreisen ein Verweis auf den achten Buchstaben des Alphabets. HH. Abkürzung für "Heil Hitler". Problematisch. Und noch problematischer bei einem Klub wie Lazio, der für seine rechtsextreme Anhängerschaft verschrien ist. Nach eigener Auskunft hatte Kishna von alldem keine Ahnung. Eigentlich wollte er die 8. Weil sie vergeben war, wurde es halt die 88.

Immerhin auf dem Platz gelang der Start. Wie einst für Ajax traf Kishna auch für Lazio bei seinem Ligadebüt. Er habe "die negativen Ladungen" aus den Niederlanden abgelegt, könne endlich wieder "mit einem hemmungslosen und freien Gefühl" Fußball spielen. Aber nicht mehr lange. Nur noch ein weiteres Tor sollte er für Lazio erzielen, dann hatte er seinen Stammplatz im Krankenhaus. Mal das Knie, mal der Oberschenkel. Zwischendurch noch ein grippaler Infekt.

Lazio hatte bald keine Verwendung mehr für Kishna. Erst verliehen sie ihn für ein halbes Jahr nach Frankreich zu OSC Lille, dann in seine Heimatstadt an ADO Den Haag. Hier hatte er das Fußballspielen einst gelernt, ehe ihn Ajax in die Zukunft lockte.

Ricardo Kishna erzählt von seinen Panikattacken

Am ersten Spieltag gelang ihm ein Assist, am zweiten ging es gegen Ajax. Eigentlich wollte es Kishna seinem Ex-Klub so richtig zeigen. Stattdessen riss er sich das Kreuzband - und fiel über drei Jahre lang aus. Über drei Jahre! Kishna geriet in Vergessenheit, doch tatsächlich gelang ihm im November 2020 doch noch das Comeback für ADO.

Wenig später setzte er sich in die TV-Show von Ex-Nationalspieler Andy van der Meijde und erzählte. Davon, wie seine schwere Verletzung zum Ausgangspunkt für Panikattacken und Depressionen wurde. "Der Tiefpunkt war, dass ich dachte: Wenn das so weitergeht, will ich nicht mehr dabei sein", sagte Kishna.

"Ich bin nach Deutschland gefahren, um meinen Kopf, mein Herz, meine Lunge, alles scannen zu lassen. Ich bin total verrückt geworden. Ich dachte: Ich habe einen Tumor im Kopf. Oder: Ich habe einen Herzinfarkt", erzählte Kishna. Dann suchte er einen Psychologen auf, der ihm schließlich Panikattacken diagnostizierte. "Ich sagte: 'Nein, du bist verrückt, ich fühle hier Dinge.' Daraufhin gab er mir eine Liste mit 50 Symptomen und ich hatte 38."

Kishna bekam Medikamente, ohne ging es nicht mehr. "Ich musste sie nehmen, um meinen Tag zu überstehen. Ich fühlte mich, als würde ich sterben. Jeden Abend, wenn ich im Bett lag, traute ich mich nicht, die Augen zu schließen, weil ich Angst hatte, nicht wieder aufstehen zu können. Ich war total ausgeflippt und verloren. Ich wollte mich nicht umbringen, aber ich dachte: Damit kann ich nicht mehr leben."

Im September 2017 riss sich Ricardo Kishna bei einem Spiel gegen seinen Ex-Klub Ajax Amsterdam das Kreuzband - bis zu seinem Comeback vergingen über drei Jahre.
© imago images
Im September 2017 riss sich Ricardo Kishna bei einem Spiel gegen seinen Ex-Klub Ajax Amsterdam das Kreuzband - bis zu seinem Comeback vergingen über drei Jahre.

Ricardo Kishna: ADO Den Haag

Die persönliche Auferstehung gelang ihm dank seiner Frau, die "positiv und ruhig geblieben ist". Dank seines Heimatklubs ADO, der ihn mitten in dieser schwierigen Situation fest unter Vertrag nahm. Und dank eines richtungsweisenden Urlaubs nach Los Angeles. "Wir haben nur Spaß gemacht und ich bin wieder in einen normalen Rhythmus gekommen. Das war der Wendepunkt für mich."

Ein halbes Jahr nach seinem langersehnten Comeback folgte aber schon der nächste Nackenschlag, ein doppelter sogar. ADO stieg 2021 aus der Eredivisie ab, Kishna litt unter einer Corona-Infektion mit schwerem Verlauf. Wochenlang musste er passen, doch auch das überstand er.

In der vergangenen Saison absolvierte Kishna so viele Pflichtspielminuten wie nie zuvor. Der Wiederaufstieg mit ADO scheiterte aber und Kishna schlug im Frühling eine Vertragsverlängerung aus. Ihn reize "ein Abenteuer im Ausland", sagte er vor Wochen. Mittlerweile deutet vieles aber doch auf einen Verbleib bei ADO hin. Das Transferfenster ist geschlossen und seit einer Woche trainiert Kishna bereits wieder bei ADO mit und soll wohl bald einen neuen Vertrag unterschreiben.

Ricardo Kishnas Leistungsdaten

SaisonKlubPflichtspieleToreAssists
2013/14Ajax Amsterdam1012
2014/15Ajax Amsterdam38611
2015/16Lazio Rom1623
2016/17Lazio Rom / OSC Lille18--
2017/18ADO Den Haag2-1
2018/19ADO Den Haag---
2019/20ADO Den Haag---
2020/21ADO Den Haag16--
2021/22ADO Den Haag26411
Artikel und Videos zum Thema