Fußball-Kolumne - DFB-Team fehlen die Automatismen - hilft jetzt nur der FC Bayern Deutschland?

Stehen sie gegen Portugal gemeinsam in der Startelf? Leroy Sane und Toni Kroos.
© getty

Nach dem EM-Fehlstart wächst der Druck auf Jogi Löw, schon gegen Portugal (Sa., 18 Uhr im LIVETICKER) droht der DFB-Auswahl das EM-Aus. Doch die Mängelliste ist lang, weil der Bundestrainer einen Schlingerkurs zwischen experimentieren und entwickeln gefahren hat. Die Fußball-Kolumne.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Die Auftaktniederlage gegen Frankreich hat jeglichen Anflug von EM-Euphorie in Deutschland zumindest vorerst zunichte gemacht. Und je länger der Abstand wird, desto ernüchternder wird das 0:1 der deutschen Mannschaft in der Rückschau.

Zu überlegen war der Weltmeister, der mit etwas Glück auch 3:0 oder sogar 4:0 hätte gewinnen können. Spätestens dann hätte niemand mehr im DFB-Team von einem unglücklichen Ergebnis sprechen können.

DFB-Team: Vorrunden-Aus bei Pleite gegen Portugal wahrscheinlich

Doch auch so ist die Verunsicherung nach dem verpatzten Start groß bei der deutschen Nationalmannschaft, die am Samstag gegen Portugal bereits mit dem Rücken zur Wand steht.

Kevin Volland im Interview: "Ronaldo und Henry fand ich krass"

Eine weitere Pleite gegen den Europameister, der über ähnlich ballsichere und konterstarke Spieler wie die Franzosen verfügt, und das erste Vorrunden-Aus seit der EM 2004 wäre sehr wahrscheinlich.

Damals vor 17 Jahren übernahm Jogi Löw zusammen mit Bundestrainer Jürgen Klinsmann die tief verunsicherte und international nur noch zweitklassige DFB-Auswahl, seit der WM 2006 ist er als Bundestrainer alleinverantwortlich. Der Südbadener führte die Mannschaft zurück an die Weltspitze mit der Krönung des WM-Titels 2014.

DFB-Team: Entwicklungstrend zeigt nach unten

Sieben Jahre später wird die Ära Löw nach dem Turnier enden, im schlechtesten Fall schon kommenden Mittwoch nach dem letzten Gruppenspiel gegen Ungarn. So weit ist es natürlich noch nicht, viele spätere Welt- und Europameister sind mit Niederlagen in eine Endrunde gestartet. Trotzdem ist das Vertrauen in die Fähigkeiten des Bundestrainers, der sein Team in den ersten fünf Turnieren immer mindestens ins Halbfinale führte, seit dem WM-Debakel 2018 massiv gesunken.

Weil sich die DFB-Elf des Jahres 2021 zurückentwickelt hat zu einer ähnlichen Mannschaft, die sie vor Löws Dienstantritt war: Ein Nationalteam, welches mit etwas Glück weit kommen kann (Vize-Weltmeister 2002), aber an schlechten Tagen gegen Topgegner chancenlos ist (u.a. Frankreich, Spanien) und selbst gegen nominell deutliche schlechtere Rivalen Probleme bekommt (u.a. 1:2 gegen Nordmazedonien).

Vom Role Model im Weltfußball zurück zur Wundertüte vergangener Zeiten sozusagen. Und die Frage stellt sich: Wann hat Löws Truppe den Anschluss nach ganz oben verpasst und warum? Die Antwort hat viel mit dem Bundestrainer zu tun.

Joachim Löw: Spaniens Tika-Taka war immer das Vorbild

Für den 61-Jährigen waren der Tika-Taka-Fußball, mit dem Spaniens Nationalmannschaft und der FC Barcelona zwischen 2008 und 2012 alles gewannen, immer das Vorbild. Schon bei der EM 2012 agierte Löws Deutschland ähnlich dominant, offensiv und spielfreudig und verspielte letztlich ebenso wie bei der noch dominanteren EM 2016 fast schon leichtfertig den Titel - der Höhepunkt ist und bleibt der WM-Triumph 2014.

Allerdings hat es Löw schon nach Brasilien versäumt, seine taktischen Vorstellungen an die Weiterentwicklungen im internationalen Fußball anzupassen.

Vor allem an das eher lauernde und dann bei Ballgewinn überfallartige Gegenpressing-Modell von Jürgen Klopp oder Thomas Tuchel ("German School of Gegenpressing" nannte es der englische Guardian), das sich teilweise auch im erfolgreichen Umschaltspiel der Franzosen aus einer massierten Defensive heraus wiederfindet.

DFB-Team unter Löw: Tempo und Tiefe fehlen

"Die Schwäche dieses Teams ist, dass sie alles schön machen und den Ball ins Tor tragen wollen", monierte der ehemalige DFB-Kapitän Michael Ballack schon bei der EM 2016. Denn Löws Team fehlte in fast allen wichtigen Spielen der vergangenen Jahre Tiefe und Tempo im Spiel, so dass der Ballbesitz beinahe zum Selbstzweck wurde. Am gravierendsten wurde das dann 2018 deutlich.

"Wer sich bei der WM auch verabschiedet hat, sind die, die von vornherein geglaubt haben, dass Ballbesitz das allein Glückseligmachende ist. Und die sich dann am Ballbesitz so lange ergötzt haben, bis sie gemerkt haben: Oh, das Spiel ist aus und wir haben noch gar kein Tor geschossen", ätzte Ralf Rangnick nach dem historischen K.o. in der Vorrunde: "Ohne Tempo und ohne Tiefgang, ohne Hochschalten in den fünften, sechsten, siebten Gang gewinnst du heute nicht mal mehr gegen Panama oder Südkorea."

Immerhin: Der Bundestrainer zeigte sich einsichtig, als er damals nach mehrwöchigem Abtauchen sein Ballbesitz-Mantra als "meine allergrößte Fehleinschätzung, meinen allgrößter Fehler" bezeichnete: "Es war fast schon arrogant. Ich wollte das auf die Spitze treiben und es noch mehr perfektionieren. Ich hätte die Mannschaft vorbereiten müssen so wie es 2014 der Fall war, als es eine Ausgewogenheit gab zwischen Offensive und Defensive."

DFB-Team: Balance fehlt trotz weniger Lichtblicke bis heute

Doch Löws Suche nach der verloren gegangenen Balance ist seitdem ohne nachhaltigen Erfolg geblieben. Auch wenn es Lichtblicke gab, allen voran das 3:2 in der EM-Qualifikation im Frühjahr 2019 gegen die Niederlande, als das pfeilschnelle Sturmtrio Serge Gnabry, Timo Werner und Leroy Sane an den erfolgreichen Umschaltfußball der WM 2010 erinnerte.

Beim angekündigten Neuaufbau machte jedoch vor allem die Corona-Pandemie den Plänen einen dicken Strich durch die Rechnung: Ein ganzes Jahr lang bis Herbst 2020 gab es keine Länderspiele und danach blieb gemeinsame Trainingszeit ebenfalls Mangelware, auch im zusammengekürzten Trainingslager vor der EM.

Allerdings hat Löw keinen geringen Anteil an den ungelösten Problemen. "Diese Nationalmannschaft wirkt im öffentlichen Erscheinungsbild auch deswegen so blass und blutleer, weil im Grunde kaum einer mehr weiß, für was, oder besser: für welche Art von Fußball sie eigentlich steht", schrieb die Frankfurter Rundschau schon nach dem 0:6 in Spanien vergangenen November: "Es ist nicht Fisch und nicht Fleisch." Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Jogi Löw: Schlingerkurs zwischen Dreier- und Viererkette

Bezeichnend für den Schlingerkurs zwischen Experiment und Entwicklung war das permanente Hin- und Herwechseln zwischen Vierer- und Dreierkette. Nun hat sich Löw für letztere entschieden, obwohl die meisten Akteure diese im Verein nicht spielen und durch die Verstärkung der Defensive die Offensive geschwächt wird.

Darüber hinaus ist es dem Ex-Profi in nahezu seiner gesamten Amtszeit nicht gelungen, eine Lösung für die anhaltenden Defizite auf den defensiven Außenbahnen und in der Sturmspitze zu finden.

Natürlich kann er sich die Spieler nicht backen, die Verantwortung für die fehlenden Alternativen liegt also vorrangig bei den Vereinen. Andererseits ist es halt die Aufgabe eines Bundestrainers, Lösungen für seine Nationalelf zu finden.

DFB-Offensivprobleme: Fehlende Torgefahr und jämmerliche Standards

Stattdessen hat er eigentlich bei allen Turnieren bis 2018 immer nur auf Miro Klose und/oder Mario Gomez gesetzt, andere wurden aussortiert (Kuranyi, Kießling), ignoriert (Wagner, Stindl, Kruse) oder zumindest nicht unbedingt stark geredet (Werner, Volland). Auch das ist ein Grund für die von Löw selbst monierte "fehlende Durchschlagskraft", ein anderer die mit Ausnahme der WM 2014 (dank des damaligen Co-Trainers Hansi Flick) beinahe jämmerliche Ungefährlichkeit bei Standards.

Und auf außen muss nun mal wieder Joshua Kimmich aushelfen, der als einziger defensiver Mittelfeldspieler auf Topniveau dringend im Zentrum benötigt würde. Nach der Verletzung von Lukas Klostermann ist davon auszugehen, dass Kimmich auch gegen Portugal erneut rechts hinten spielen wird, zumal sich Löw ganz generell nicht von außen reinreden lässt, und schon gar nicht von Medien.

Aller Voraussicht nach bleibt es also auch am Samstag bei der Dreierkette und einer ähnlichen Startelf, höchstens Sane könnte für den gegen Frankreich enttäuschenden Kai Havertz seine Chance bekommen. Löws Festhalten am Bewährten hat einen einfachen Grund: Mitten im Turnier Taktik, Grundordnung und das weiterhin auf Ballbesitz ausgerichtete Spielsystem zu wechseln, ist angesichts der fehlenden Automatismen ein großes Risiko.

Die logischste Variante: Der FC Bayern Deutschland

Wäre Löw ein radikaler Pragmatiker wie etwa Frankreichs Weltmeistercoach Didier Deschamps ("Fußball heißt effizient zu sein. Das werde ich immer schätzen und genießen"), dann würde er vermutlich auf die logischste Variante zurückgreifen: Den FC Bayern Deutschland. Denn die acht Münchner Profis im Kader kennen ihr erfolgreiches System, mit dem sie vergangenes Jahr unter dem künftigen Bundestrainer Flick sieben Titel gewannen, in und auswendig.

Die Startelf im 4-2-3-1 könnte dann so aussehen: Neuer - Ginter, Süle, Hummels, Gosens - Kimmich, Goretzka - Musiala, Müller, Sane - Gnabry. Hummels hat eh die Bayern-DNA, Ginter und Gosens wären sicher die bestmöglichen Alternativen auf außen und in die Spitze könnten immer wieder Sane und Müller mit Gnabry rochieren, der im übrigen meist als Mittelstürmer in seinen ersten 13 Länderspielen 13 Tore erzielte - die höchste Trefferquote seit Gerd Müller.

Ilkay Gündogan und Toni Kroos: Höchstens einer kann spielen

Selbst wenn man den Einsatz von Youngster Jamal Musiala für zu gewagt hält (andererseits: warum ist er dann überhaupt dabei?), bliebe im Mittelfeld Platz für Ilkay Gündogan in ähnlich offensiver Ausrichtung wie bei Manchester City (13 Premier-League-Tore). Aber allein die Tatsache, dass Toni Kroos dann auf die Ersatzbank müsste, macht die Bayern-Option vorerst unwahrscheinlich.

Geht Löws Marschroute allerdings auch Samstag schief und zeigen sich erneut so viele Stammkräfte weit von ihrer optimalen Verfassung entfernt, ist es im letzten Spiel gegen Ungarn dann fast schon zu spät für grundlegende Änderungen.

Und auch der nun häufig zu hörende Verweis auf die Erfolgsbilanz gegen Portugal - vier Siege unter Löw in vier Turnieren und kein Gegentreffer durch Cristiano Ronaldo - sollte nicht zu optimistisch stimmen.

Denn jede Serie endet mal: Gegen Frankreich gewann die DFB-Elf dreimal in Folge bei einem großen Turnier und erreichte immer das Finale, dann kamen die Niederlagen 2016 und 2021. Und gegen Südkorea gab es auch nur Siege - bis zum 0:2 am 27. Juni 2018. Bis zu jenem Tag, der das erste WM-Vorrundenaus einer deutschen Nationalmannschaft besiegelte.

Artikel und Videos zum Thema