Champions League - Ajax gewinnt Hinspiel bei den Spurs: Die Kunst des Erwachsenwerdens

Von Jonas Rütten
Mit einem Bein im Champions-League-Finale von Madrid: Daley Blind, Matthijs de Ligt und die junge Truppe von Ajax Amsterdam.
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Ajax Amsterdam zeigte im Hinspiel des Champions-League-Halbfinals bei Tottenham zwei Gesichter: Das eine war das junge, frische, temporeiche, unbekümmerte Ajax, das man schon aus den grandiosen Auftritten gegen Real Madrid und Juventus kannte. Das andere war älter, abgezockter, erwachsener, aber auch nicht über jeden Zweifel erhaben. Mindestens ein Wermutstropfen blieb trotz eines "herausragenden" Abends.

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Es ist noch gar nicht so lange her, da war das Champions-League-Märchen von Ajax Amsterdam schon vorbei, als es noch nicht einmal so richtig begonnen hatte. Mitte Februar war das, am 13. Tag des Monats um genau zu sein. Da verlor Ajax in der heimischen Johan-Cruyff-Arena mit 1:2 gegen einen unterlegenen, aber eben eiskalten Titelträger Real Madrid.

Die 90 brillanten Minuten, die Ajax zuvor bestritten hatte und in denen die Niederländer die Königlichen dominiert hatten? Bestenfalls eine respektable Randnotiz. Schließlich zählt gerade in der K.o.-Phase der Champions League mit ihrer Auswärtstorregel einzig und allein das nackte Ergebnis. Die junge Ajax-Truppe schien zu grün hinter den Ohren zu sein, um im Konzert der Großen mitspielen zu können. Nicht erwachsen genug, nicht abgezockt genug, hieß es damals.

Doch in den darauffolgenden Spielen gegen Real (4:1) und Juventus (1:1, 2:1) zeigte der Underdog, wie weit man es trotz eines vergleichsweise minimalen Etats und gerade mit jener jugendlich anmutenden Unbekümmertheit, die ihm noch gepaart mit fehlender Erfahrung als Nachteil attestiert wurde, kommen kann.

Ajax zieht Spurs 30 Minuten lang an der Nase durchs Eigenheim

Durch den ballorentierten Hochgeschwindigkeitsfußball spielte Ajax mit zwei Titelfavoriten Katz und Maus und lehrte Europas Fußball-Establishment das Fürchten. "Man konnte sehen, dass Juventus und Real ein bisschen Angst vor uns hatten", sagte Ajax-Trainer Erik ten Hag kurz nach dem Einzug ins Halbfinale.

Und genau dort verbreitete Ajax nur zwei Wochen später im neu erbauten Tottenham Hotspur Stadium erneut Angst und Schrecken. Diesmal allerdings nur eine halbe Stunde lang. Die erste des Hinspiels, um genau zu sein. Doch die reichte gegen ersatzgeschwächte und verzweifelt nach Torgefahr suchende Spurs, um eine hervorragende Ausgangsposition für das Rückspiel in Amsterdam und für den Einzug ins Finale zu haben.

30 Minuten lang zog der Außenseiter, der schon vor dem Spiel gar keiner mehr war, den Tabellendritten der Premier League an der Nase durch das neue Eigenheim - und das im fast schon gewohnten Ajax-Style. Dynamisch, energiegeladen, temporeich, dominant und mit vielen Positionsrochaden. 70 Prozent Ballbesitz und 6:0-Torschüsse verbuchten die Niederländer nach 20 Minuten.

Einer davon - ein besonders schön herausgespieltes Exemplar von David Neres, Lasse Schöne und Hakim Ziyech - kam von Donny van de Beek und fand sein Ziel (15.). Ein weiterer hätte das ebenfalls tun müssen, doch Spurs-Keeper Lloris parierte glänzend gegen eben jenen van de Beek.

Schockierende Bilder: Jan Vertonghen fällt nach einem schweren Zusammenprall mit Ajax-Keeper Andre Onana bei seiner Auswechsung fast in Ohnmacht.
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Schockierende Bilder: Jan Vertonghen fällt nach einem schweren Zusammenprall mit Ajax-Keeper Andre Onana bei seiner Auswechsung fast in Ohnmacht.

Vertonghen K.o. zwingt Spurs zur Umstellung: Wachgeküsst

"In den ersten 20 Minuten waren wir nur Zuschauer", analysierte ein vom Wiedersehen mit der alten Liebe gefrusteter Christian Eriksen hinterher. Das lag nach Ansicht des ehemaligen Ajax-Spielers jedoch nicht an der Stärke seines Ex-Klubs, sondern an der "unterdurchschnittlichen" Leistung der Lillywhites. "Ajax ist eine gute Mannschaft, aber wir haben sie heute besser aussehen lassen, als sie es eigentlich sind", erklärte Eriksen und hatte damit vielleicht noch nicht einmal Unrecht.

Das anfängliche 3-5-2-System, das Spurs-Trainer Mauricio Pochettin als Teil seines Matchplans präsentierte, entpuppte sich als selbstgestellte Falle. Die Spurs agierten wie das Kanninchen vor der Schlange und kamen lediglich über Standards zu Entlastungsvorstößen. "Ich muss akzeptieren, dass die Formation ein Fehler war", gestand Pochettino nach dem hektischen 95 minütigen Treiben im Londoner Norden, fügte aber richtigerweise an, dass es "nicht so viele Optionen" gegeben habe.

Als Jan Vertonghen jedoch stark blutend und völlig beommen nach einem Zusammenprall mit Ajax-Keeper Andre Onana ausgewechselt werden musste, wurde Pochettino quasi dazu gezwungen, seinen Fehler zu korrigieren. Die Spurs stellten auf eine Viererkette um und die Hereinnahme von Moussa Sissoko sorgte für wesentlich mehr Stabilität im Zentrum. Tottenham war fortan nicht mehr Zuschauer, sondern spielte tatsächlich mit und vergab in Person von Toby Alderweireld kurz vor der Pause die erste und letztlich einzige Großchance auf den Ausgleich.

Tottenham stellt Ajax vor Probleme: Das zweite Gesicht

Die Systemumstellung habe Ajax "Probleme bereitet", erklärte ten Hag. Einerseits, weil Tottenham direkter gespielt habe, physisch präsenter, griffiger und stabiler war. Andererseits, weil sich technische Fehler, Ungenauigkeiten und Ballverluste ins Spiel der Niederländer einschlichen.

Dass er dennoch von einem "herausragenden Abend" sprach, war in erster Linie natürlich dem Ergebnis geschuldet. Darum gehe es am Ende schließlich, wie Ajax-Kapitän Matthijs de Ligt korrekterweise anmerkte.

Doch weil dieses 1:0 unterm Strich trotz leichter Vorteile der Spurs im zweiten Durchgang nie wirklich in Gefahr geraten war, schwang vielleicht noch ein bisschen mehr Stolz in ten Hags Stimme mit, als er das Spiel mit den Worten "fantastisch" und "herausragend" beschrieb.

Wie ein Vater lobte ten Hag seine nicht mehr ganz so jugendlich wild anmutende Mannschaft, die gefühlt zum ersten Mal ihre erwachsene, abgezockte Seite zeigte, trocken ein Ergebnis herunterspielte und sich nicht wie noch zwei Monate zuvor gegen Real um den Lohn bringen ließ. Und das als im Schnitt zweitjüngste Mannschaft in einem Halbfinale der Königsklasse seit Borussia Dortmund 2013 (25 Jahre, 216 Tage) und gegen eine im Schnitt drei Jahre ältere, kampferfahrene Spurs-Truppe.

"Wir haben gezeigt, dass wir auch abwehren können", stellte der "fantastische" (ten Hag) Siegtorschütze van de Beek fast schon etwas stolz fest. Als wolle er sagen, dass diese Ajax-Mannschaft - gestählt und gereift durch die vorangegangenen Schlachten in der Königsklasse - jetzt so gut wie keine Schwächen mehr habe.

Tottenham sinnt auf Revanche mit Son: "Wir leben noch"

Dass Tottenham die Defensive der Niederländer jedoch kaum in Gefahr brachte, lag einerseits am Fehlen vom für die Passsicherheit und Spielstruktur so wichtigen Harry Winks, besonders aber auch daran, dass in Harry Kane (Sprunggelenksverletzung) und Heung-min Son (Gelbsperre) die beiden Spieler fehlten, die genau das für gewöhnlich tun - Torgefahr ausstrahlen. Besonders Son blühte nach der Verletzung von Topstürmer Kane auf und wurde zum personifizierten Albtraum von Pep Guardiola und Manchester City.

Zumindest der Südkoreaner wird in acht Tagen wieder mit an Bord sein. Auch deshalb merkte Pochettino nach dem sicherlich enttäuschenden, aber auch nicht niederschmetternden Ergebnis am Dienstag an: "Wir leben noch." Eine Tatsache, die wohl aus Ajax-Sicht der einzige Wermutstropfen ist, schließlich hatte David Neres in der 78. Minute eine Art Vorentscheidung auf dem Fuß, setzte den Ball jedoch freistehend an den Innenpfosten. Vielleicht ein Hauch von jugendlichem Leichtsinn?

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