Der Anti-BVB

Der FC Schalke 04 sprang mit seinem Sieg gegen den Hamburger SV auf Tabellenposition zwei
© Getty

Der FC Schalke 04 ist durch den 2:0-Sieg gegen den Hamburger SV am 12. Spieltag auf den zweiten Tabellenplatz geklettert. Eine Woche vor dem Revierderby stehen die Königsblauen damit erstmals seit zweieinhalb Jahren vor dem großen Rivalen Borussia Dortmund. Der Schlüssel des derzeitigen Schalker Erfolges ist dabei ein krasser Gegensatz zum BVB in der aktuellen Verfassung.

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Inbrunst ist nicht unbedingt eine Eigenschaft, die dem Publikum in Gelsenkirchen beim Schmettern der üblichen Gassenhauer in der Regel fehlt. Der Mythos vom Schalker Markt wird in guten wie in schlechten Phasen aus vollem Leib gebrüllt, genau wie das Bekenntnis, dem Klub "ein Leben lang" die Treue zu halten.

Dermaßen inbrünstig wie am Sonntagnachmittag ab etwa 15.48 Uhr schrien die Anhänger in den königsblauen Trikots aber schon lange keinen Fangesang mehr heraus: "Die Nummer eins, die Nummer eins, die Nummer eins im Pott sind wir!" Diese Worte hallten ab Franco Di Santos Führungstreffer im Heimspiel gegen den Hamburger SV durch das weite Rund. Und es hörte bis zum Spielende quasi nicht mehr auf, wurde maximal für ein paar Minuten unterbrochen.

Mit dem Schlusspfiff durch Schiedsrichter Robert Hartmann und dem damit eingetüteten 2:0-Sieg war es etwa anderthalb Stunden später offiziell: Der FC Schalke 04 ist tatsächlich die Nummer eins im Ruhrpott, erstmals nach 911 Tagen stehen die Gelsenkirchener zum Abschluss eines Bundesligaspieltags über dem Erzrivalen Borussia Dortmund. Seit dem letzten Spieltag der Saison 2014/2015 war dies nicht mehr der Fall gewesen.

Noch länger her war es, dass Schalke letztmals auf Tabellenplatz zwei in der Bundesliga stand, nämlich genau fünf Jahre (zuletzt am 12. Spieltag der Saison 2012/2013).

Schalke nach dem FC Bayern das formstärkste Team

Schalke surft seit Wochen auf einer königsblauen Erfolgswelle, die das Team exakt pünktlich vor dem Revierderby am BVB vorbeigespült hat. Die letzte Niederlage kassierte S04 Ende September gegen Hoffenheim, seitdem sammelten sie 14 Punkte aus sechs Spielen - im gleichen Zeitraum waren nur die Bayern besser (16), Dortmund sammelte gerade einmal vier Punkte.

Die Basis des Erfolgs der letzten Wochen ist die große Stabilität, die Schalke unter dem neuen Trainer Domenico Tedesco zurückgewann.

Defensive Stabilität

Nach dem FC Bayern (8 Gegentore) stellt sein Team die zweitbeste Defensive der Liga (10 Gegentore), die sich nach einer Trial-and-Error-Phase zu Saisonbeginn mittlerweile gefunden und aufeinander eingespielt hat: Die Dreierkette mit Naldo als Chef, Thilo Kehrer und Benjamin Stambouli harmoniert seit Wochen blendend, ist zweikampfstark und gut im Spielaufbau.

Davor gewöhnt sich Max Meyer immer mehr an seine Rolle als Sechser. Gegen den HSV war der U21-Europameister einmal mehr wichtiger Antreiber im Mittelfeld, der viele Räume zulief, unter anderem den entscheidenden Zweikampf vor dem Führungstor gegen Tatsuya Ito gewann und den Angriff einleitete. "Ich habe richtig Spaß auf der Sechs. Ich wusste, dass ich die Position spielen kann. In den vergangenen Wochen funktioniert das ganz gut", analysierte Meyer nach der Partie selbst.

Schalker Mannschaft entwickelt sich weiter

Darüber hinaus ist eine Weiterentwicklung der Mannschaft bei der Anpassung der eigenen Ausrichtung auf den Spielverlauf zu erkennen. Während sie bei Spielen wie gegen Bayer Leverkusen oder den VfL Wolfsburg eine Führung noch aus der Hand gab, machte sie es zuletzt gegen Freiburg und den HSV sehr clever, stand defensiv kompakt, stieß aber immer wieder nach vorne, um die Entscheidung herbeizuführen. Gegen Hamburg war das mit Burgstallers Treffer erfolgreich.

Attraktiv ist der Fußball der Schalker in den letzten Wochen dagegen kaum. Immer wieder wirkten sie bei eigenem Ballbesitz ideenlos, nur selten zogen sie das Tempo an und kombinierten sich sehenswert durch die gegnerischen Abwehrreihen.

Aber Attraktivität hin oder her, das Schalker Spiel charakterisierte zuletzt vor allem eines: Effizienz. "Wir wissen, dass wir eine starke Defensive haben und unsere Chancen aktuell gut nutzen", bringt Meyer es auf den Punkt.

Der Sieg gegen den HSV war eine Blaupause der Saison: kein Feuerwerk, kein Leckerbissen, aber große Spielkontrolle, defensive Stabilität und eine starke Chancenauswertung. Sogar Franco Di Santo beendete seine Flaute nach 1054 torlosen Bundesliga-Minuten.

Dortmunder Spiel das Gegenteil von Schalke

Vor dem Revierderby ist die Charakterisierung des Schalker Spiels ein krasser Gegensatz zu dem der Dortmunder. Schalke ist in dieser Saison gewissermaßen - und zwar nicht nur qua Selbstverständnis und Rivalität, sondern auch qua Spielanlage - der Anti-BVB.

Dortmund spielte in den letzten Monaten (zumindest meist) im eigenen Ballbesitz deutlich kreativer, mit mehr Tempowechseln und dadurch auch den attraktiveren Fußball, tat dies jedoch auf Kosten einer stabilen Defensive. Die hoch stehende Verteidigung lief immer wieder in Unterzahlsituationen und ließ Chancen für den Gegner zu.

Was zu Saisonbeginn noch aufging und den BVB von Sieg zu Sieg spülte, bekam zuletzt Risse. "Die Gegner haben sich ein bisschen auf uns eingestellt", gab Hans-Joachim Watzke am Freitag bei Eurosport zu.

Bieder, aber kompakt, stabil und effizient sticht attraktiv, aber defensiv anfällig und ineffizient - die Form- und die Erfolgskurven der beiden Ruhrrivalen verliefen in den letzten Wochen konträr.

Schalke wiegelt Favoritenrolle ab

In eine Favoritenrolle für das kommende Wochenende wollten sich die Schalker jedoch nicht drängen lassen: "Im Derby ist man nie Favorit. Das ist ein 50:50-Spiel. Die Dortmunder haben eine überragende Offensive", sagte Meyer. Auch Kapitän Ralf Fährmann wollte Abstand von Parolen nehmen: "Es war klar, dass wir in diese Rolle gesprochen werden. Aber wir bleiben ganz cool. Wir wissen, was auf uns zukommt." Der BVB habe trotz Krise eine "sehr gute Mannschaft", die darüber hinaus "etwas gutzumachen" habe.

Das Momentum spricht für Königsblau, zumal Hoffnungsträger Leon Goretzka nach wochenlanger Verletzungspause einen Einsatz in Aussicht stellte. Jedoch könnte genau diese Ausgangslage auch eine Hürde für die Schalker sein: Der BVB könnte mit einem Sieg im Derby die Stimmung schlagartig drehen.

Schalke will sich nicht von der Euphorie anstecken lassen

Doch kurzfristige Stimmungen wollen die Schalker Protagonisten derzeit ohnehin nicht an sich rankommen lassen: "Der zweite Platz ist eine schöne Momentaufnahme, mehr nicht. Das ist der Lohn für die harte Arbeit. Aber dafür können wir uns noch nichts kaufen. Die Liga ist sehr eng, es kann nach wenigen Wochen wieder anders aussehen", drückte Meyer auf die Euphoriebremse.

Sein Trainer Tedesco bließ ins gleiche Horn: "Die Tabelle ist nach zwölf Spieltagen nicht wichtig - sondern erst nach 34. Aktuell ist es brutal eng oben. Wir motivieren uns über Aufgaben, nicht über die aktuelle Tabelle. Das aufgabenorientierte Denken behalten wir uns bei."

Genau dieses "aufgabenorientierte Denken" rückt nun jedoch die aus Schalker Sicht größte aller Aufgaben ins Blickfeld: "Ab jetzt gehört unser voller Fokus dem Derby", versprach Tedesco.

Die Anhänger der Königsblauen werden jedenfalls ihre Stimmen für die kommende Woche ölen. Denn mindestens zu Beginn werden sie im Dortmunder Westfalenstadion ihren Lieblingsgesang zum Besten geben. Wahrscheinlich sogar noch etwas inbrünstiger als am Sonntag gegen den HSV...

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