Die Fußball-Kolumne: Wie der Fußball Diego Maradona zerstörte

Diego Maradona während seiner Zeit in Neapel in seinem Auto.
© imago images / Pressefoto Baumann

Nach der Karriere wurde Diego Maradona zum Wrack. Doch als Fußballer war er nicht nur ein Genie, sondern auch ein Kämpfer, der sich immer wieder mit den Mächtigen anlegte. Genau das wurde ihm zum Verhängnis. Die Fußball-Kolumne.

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Am Ende bleibt wie bei jedem Künstler vor allem der Blick auf sein größtes Kunstwerk. Bei Diego Armando Maradona war das prägendste von vielen überragenden Spielen das WM-Viertelfinale 1986 gegen England, als der Kapitän erst mit der "Hand Gottes" die Führung erschummelte und wenig später mit einem Jahrhundert-Solo über den halben Platz das vorentscheidende 2:0 nachlegte.

"Von welchem Planeten kommst Du?", schrie der völlig enthemmte argentinische TV-Reporter Hugo Morales in sein Mikrofon. Die Antwort darauf hatte Diegos Bruder Hugo, eins von acht Geschwistern des aus bettelarmen Verhältnissen stammenden Maradona, schon Jahre zuvor gegeben: "Mein Bruder kommt vom Mars."

In der Tat: Maradona war zu seiner Hochzeit in den 1980er-Jahren nicht von dieser Welt, von nichts und niemandem aufzuhalten. Und er nutzte seine Position als Lichtgestalt, um sich immer wieder mit den Mächtigen anzulegen: In den Verbänden, in der Politik und in der Gesellschaft.

Diego Maradona: Immer wieder "Stiche ins Wespennest"

"Dieser kleine, immer widersprechenede Hitzkopf hatte die Angewohnheit, Schläge nach oben auszuteilen", erklärte der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano in seinem Buch "El futbol a sol y sombra". "Seine gesamte holprige Karriere über hat Maradona bei tausendundeiner Gelegenheit Dinge gesagt, die wie Stiche ins Wespennest waren."

Es war also nur eine Frage der Zeit, dass man es ihm heimzahlen würde. Je länger er Rivalen und Herrschende herausforderte (und teilweise auf und neben dem Platz lächerlich machte), desto größer wurde dort die Abneigung. Und so rächten sie sich doppelt und dreifach, als Maradonas Stern zu sinken begann - ein Grund für seinen Absturz, zumindest als Profi.

"Diego hat nicht gut auf sich aufgepasst, aber der Fußball hat zu seiner Schande auch nicht auf ihn aufgepasst", schieb der Guardiola- und Maradona-Biograph Guillem Balague in einer Kolumne für die BBC: "In all seinen Jahren in Argentinien, Spanien und Italien wurden ihm alle Arten von Medikamenten injiziert, um die ständigen Schmerzen zu lindern, oft ohne dass er eine Ahnung hatte, was ihm gegeben wurde."

Maradona: Medikamentenmissbrauch als Vorstufe der Drogensucht

Dieser anfangs unfreiwillige Medikamentenmissbrauch dürfte auch eine Rolle gespielt haben bei seinem späteren Drogenkonsum, der ihn schon vor 20 Jahren an die Schwelle des Todes führte. Er war einerseits eine Folge seiner vielen falschen Freunde, andererseits aber auch der Tribut an die zahlreichen schweren Verletzungen.

Denn Offensivkünstler wie Maradona waren zu seiner Zeit Freiwild, die Verteidiger konnten meist mit ihnen machen, was sie wollten. So wie der Italiener Claudio Gentile, der den Argentinier bei der WM 1982 über den ganzen Platz jagte und ihm am Ende sogar ungestraft einen Faustschlag versetzte. Am schlimmsten aber erwischte es Maradona im Jahr darauf beim FC Barcelona, als ihm Andoni Goikotxea von Athletic Bilbao, "der Schlächter von Bilbao", mit Anlauf und ohne Aussicht auf den Ball von hinten in die Beine sprang.

Die bitteren Folgen für Maradona: Bruch des Wadenbeins, gerissenes Außenband und ein ausgekugeltes Fußgelenk, mehrmonatige Zwangspause - sogar ein Karriereende des 22-Jährigen drohte.

"Auf der ganzen Welt gab es genügend Leute, die bereit waren, den Fall dieses arroganten Latinos zu feiern, dieses Neureichen, der dem Hunger entronnen war und es wagte, aufsässig und großmäulig zu sein", schrieb Galeano zu den vielen gehässigen Reaktionen.

Die "berühmteste Blutgrätsche aller Zeiten" und die Folgen

Allerdings hatte die "berühmtesten und brutalsten Blutgrätsche aller Zeiten" (Süddeutsche Zeitung) auch positive Konsequenzen, 1993 wurden - wenn auch mit einiger Verspätung - Grätschen von hinten verboten, ab 1998 mit einer Roten Karte bestraft.

"Heute würden ihm seine Fähigkeiten einen größeren Schutz bieten. Die brutalen Attacken, von denen viele nicht bestraft wurden, sorgten für eine Reihe schrecklicher Verletzungen bei Maradona und waren dafür verantwortlich , dass er einen Großteil seines Lebens mit lähmenden Schmerzen verbrachte", meint Balague. "Vor einigen Jahren sagte er mir, dass Spieler wie Lionel Messi ihm viel schuldeten, weil einige der Zweikämpfe, die er ertragen hatte, heute niemals erlaubt sein würden."

Die Feindseligkeit gegenüber Maradona lag neben seinem Können auch an seinem Erfolg, vor allem nach seinem für damalige Verhältnisse sensationellen Wechsel 1984 zum Provinzverein SSC Neapel. Als Kapitän, Spielmacher und Torschütze führte er den Klub aus dem Mittelmaß zur ersten Meisterschaft überhaupt (1987), später folgten ein weiterer Scudetto, ein Pokalsieg und der UEFA-Cup-Triumph 1989.

Das 2:1 über England bei der WM 1986 ist das Spiel, mit dem Maradona für immer zeigt, wie nahe bei ihm Genie und Wahnsinn beieinanderliegen. Im Viertelfinale folgt auf die "Hand Gottes" ein Solo für die Ewigkeit.
© getty
Das 2:1 über England bei der WM 1986 ist das Spiel, mit dem Maradona für immer zeigt, wie nahe bei ihm Genie und Wahnsinn beieinanderliegen. Im Viertelfinale folgt auf die "Hand Gottes" ein Solo für die Ewigkeit.

"Dank Maradona demütigte der dunkle Süden den weißen Norden"

"Dank Maradona hatte der dunkle Süden es endlich geschafft, den weißen Norden zu demütigen, der den Süden verachtet hatte. Jedes Tor war eine Missachtung der etablierten Ordnung und eine Revanche an der Geschichte", erklärte Galeano. In den Straßen Neapels verkaufte man zu dieser Zeit Särge mit den Namen der reichen Vereine Norditaliens und Fläschchen mit den Tränen von Milan-Besitzer Silvio Berlusconi.

"Er wuchs mit einem Stolz auf seine soziale Klasse auf, den er nie ablegte. Sein Stolz und seine repräsentative Kraft führten dazu, dass mit Maradona die Armen gegen die Reichen siegten", schrieb sein früherer Mitspieler Jorge Valdano in einem Nachruf der spanischen Zeitung El Pais. "Deshalb war die Unterstützung, die er von ‚denen da unten' erhielt, nicht nur bedingungslos. Sie war genauso groß wie das Misstrauen, das ‚die da oben' ihm gegenüber zeigten, und Reiche hassen es zu verlieren."

Doch die Zuneigung der Massen, so sehr sie Maradona auch freuten, sie erdrückten ihn teilweise auch.

Maradona: Häme und Spott über den "Schinken mit Locken"

Als Maradona ab Ende der 80er Jahre regelmäßigen Kontakt zur Camorra und zum Kokain pflegte und gleichzeitig seine Leistungskurve nach unten zeigte, nahmen Häme und Spott über den "Schinken mit Locken" stetig zu. Endgültig zerschnitten war das Tischtuch nach der WM 1990 in Italien, als Maradonas Argentinier ausgerechnet in Neapel die Gastgeber aus dem Turnier warfen und dafür im Endspiel gegen Deutschland in Rom schon bei der Hymne ausgepfiffen wurden.

Die Mächtigen entzogen ihm ihre schützende Hand und lieferten ihn förmlich aus. Maradonas positiver Dopingtest auf Kokain acht Monate nach der WM gilt als abgekartetes Spiel, weil sein Drogenkonsum schon vorher lange bekannt war.

Noch übler wurde ihm in seiner Heimat Argentinien mitgespielt. Nachdem sich die herrschende Klasse des Landes jahrelang mit dem Nationalhelden geschmückt hatte, wurde er nun zum Abschuss freigegeben. Die Festnahme im Mai 1991 wegen Kokainkonsums wurde vorher an die Medien durchgestochen und fand vor laufenden Kameras statt.

Doch el Pibe de Oro, der Goldjunge, ließ sich nicht unterkriegen und führte die Albiceleste mit 33 Jahren und als vereinsloser Spieler zur WM in den USA, wo er noch einmal auftrumpfte. Nach dem letzten Gruppenspiel gegen Nigeria aber wurde er positiv auf Ephedrin getestet und erneut für 15 Monate gesperrt. "Sie haben mir meine Beine abgeschnitten. Ich habe aufgegeben, meine Seele ist zerstört", sagte er damals unter Tränen.

Maradona fühlte sich als Opfer einer FIFA-Verschwörung

Maradona fühlte sich als Opfer einer Verschwörung der FIFA, eine spätere Untersuchung ergab, dass er die Substanzen nicht wissentlich eingenommen hatte, sondern ihm diese von seinem privaten Fitnesstrainer Daniel Cerrini verabreicht worden waren. Eine direkte Beteiligung des Weltverbandes konnte nicht nachgewiesen werden, aber mit Präsident Joao Havelange und dessen Generalsekreträr und späterem Nachfolger Sepp Blatter stand Maradona schon länger auf Kriegsfuß.

Wie schon bei der WM 1986 hatte der Superstar auch 1994 vehemente Kritik an den Anstoßzeiten in der Gluthitze des Mittags geübt, die von den TV-Sendern vorgegeben worden waren. Und gleichzeitigt jahrelang vergeblich eine größere Beteiligung der Profis an den Millioneneinnahmen der FIFA gefordert.

Blatter revanchierte sich auf seine Weise mit dem unfassbaren Satz: "Der letzte argentinische Fußballstar war Di Stefano." Und indem er Maradonas Wahl zum besten Spieler aller Zeiten durch eine Umfrage unter Fans im Jahr 2000 in Frage stellte und deshalb einen weiteren Preis einer FIFA-Jury für den "Fußballer des Jahrhunderts" an Pele vergab.

"Er tanzte ihr auf der Nase herum, das hat seinen Preis"

"Der Machtmaschine kam es gerade Recht", meinte Galeano zu Maradonas Sperre 1994, die den Anfang vom Ende seiner Karriere bedeutete: "Er tanzte ihr auf der Nase herum, das hat seinen Preis, und der Preis wird bar bezahlt und ohne Rabatt."

Maradona zahlte einen sehr hohen Preis, der ihn letztlich das Leben kostete. Von der Verstoßung aus seinem Paradies, dem Fußballplatz, erholte sich der Goldjunge nie mehr. Weil natürlich zur Zerstörung von außen die innere Selbstzerstörung hinzukam.

"Mit Diego würde ich ans Ende der Welt gehen. Aber mit Maradona nicht mal bis zur nächsten Straßenecke", sagte sein langjähriger Vertrauter und Fitnesscoach Fernando Signorini über dessen gespaltene Persönlichkeit.

Die dunkle Seite sorgte in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem mit Drogensucht, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, körperlicher Gewalt, Steuerhinterziehung, Geldverschwendung und sonstigen Eskapaden für Schlagzeilen.

Maradona ist tot, aber Diego wird ewig leben.

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